Eine Gesellschaft offenbart sich sich selbst
und anderen - neben der unmittelbaren medialen Selbstbespiegelung - besonders
trefflich anhand des Bildes, das Kunstwerke von ihr zeichnen. Der veränderte
Blick, den die künstlerische Abstraktion birgt, ermöglicht es mitunter
kulturell Geformtes durch künstlerisch Entworfenes in einen anderen Kontext zu
überführen, es auf eine anderweitige Weise greifbar zu machen. Einen solchen
Blick auf die japanische Gesellschaft nach der Dreifachkatastrophe von
Fukushima, die teils als historische Zäsur wahrgenommen, teils als eine solche
dargestellt wurde, wirft Ōbayashi Nobuhikos Film No no nana nanoka (Seven Weeks). Innerhalb des Films wird die
Katastrophe vom 11. März 2011 mit der Niederlage Japans im Zweiten Weltkrieg
verbunden, wodurch die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart
aufgezeigt und daraus resultierend eine implizite Botschaft des Friedens
formuliert wird.
Dieser Gastbeitrag beleuchtet nicht nur
detailliert Ōbayashi Nobuhikos Film No no nana nanoka, sondern auch
den "Post-Fukushima-Diskurs" Japans, mit seinen divergenten Positionen,
sowie Ōbayashis Verhältnis zu diesen und ermöglicht es derart den Lesenden -
auch unabhängig von Ōbayashis Film - die verschiedenartigen Strömungen, die
sich in Folge der Dreifachkatastrophe von Fukushima innerhalb der japanischen
Gesellschaft abzeichneten, besser zu fassen.
- picti mundi -
Anmerkung des Verfassers des
Gastbeitrags:
Dieser
Text ist urheberrechtlich geschützt und darf ohne ausdrückliche Erlaubnis in
keiner Form wiedergegeben werden. Zitate müssen gekennzeichnet werden. Bei
Interesse schicke ich euch gerne den Originaltext zu. Eine kurze
Zusammenfassung und meine E-Mail-Adresse findet ihr hier: http://vsjf.net/newssection/abschlussarbeiten/bachelorarbeiten/ (11.
Eintrag: Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und
Gegenwart: Der Zweite Weltkrieg und „Fukushima“ in Ōbayashi Nobuhikos Essayfilm
No no nana nanoka).
1. Einleitung
Die Reaktionen von Intellektuellen, Künstlern und
öffentlichen Personen auf die Dreifachkatastrophe von Fukushima, bestehend aus
Erdbeben, Tsunami und dem AKW-Gau, waren schnell und zahlreich, sodass zeitnah
vom „Post-Fukushima-Japan“ oder einem „Post-Fukushima-Diskurs“ die Rede war.[1]
Im Zuge dieses Diskurses werden die Folgen dieses Erdbebens
(Higashi-nihon daishinsai 東日本大震災)
am 11. März (auch 3.11 in Anlehnung an 9.11) als historische Zäsur dargestellt,
als neuer Wendepunkt in der japanischen Geschichte. In Literatur, Theater und
Film stellt sich seither nicht nur die Frage, ob und wie diese Zäsur und die
daraus folgenden Veränderungen für die Gesellschaft und die Zukunft abgebildet
werden können, sondern auch, inwiefern der 11. März als Zäsur für das
künstlerische Schaffen selbst gelten kann. Der Blick fällt jedoch nicht nur auf
ein Japan nach „Fukushima“.[2]
So bemerken die Japanologinnen Kristina Iwata-Weickgenannt und Barbara Geilhorn, dass
bereits direkt nach der Katastrophe ein Vergleich mit der Niederlage Japans im
Zweiten Weltkrieg angestellt wurde (vgl. 2017: 3). Der Fokus dieser Arbeit liegt auf der Verknüpfung dieser beiden historischen
Kontexte in Ōbayashi Nobuhikos Essayfilm Nono nana nanoka 野のなななのか[3]
(2014, engl. Seven Weeks).[4]
Ōbayashi Nobuhiko, geboren 1938 in Hiroshima, begann 1977 seine Karriere als Filmemacher[5]
mit dem Horrorfilm Hausu ハウス
(engl. House), der bis heute sein international erfolgreichster Film ist. In
Japan erlangte er zudem Bekanntheit durch die Onomichi-Heimatfilmtrilogie sowie Fernsehwerbungen (CM) mit
internationalen Stars wie dem US-Schauspieler Charles Bronson. Seit Beginn
seiner Karriere bewegt sich Ōbayashi zwischen kommerziellen und
Independent-Filmen (vgl. 2008: 271). Er ist bekennender Pazifist und
Befürworter des „Friedensartikels“ (Artikel 9) der japanischen Verfassung (vgl.
Furuya 2014). Eine Auseinandersetzung mit der Kriegsvergangenheit Japans und
den Atombombenabwürfen findet in vielen seiner Werke statt.[6]
Die Dreifachkatastrophe ereignete sich, während des Drehs von Kono sora no hana この空の花
(2012, engl. Casting Blossoms in the Sky), einem Film über die Bombardierung
der Stadt Nagaoka gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Regisseur reagierte, indem
er die Auswirkungen der Katastrophe in den Film einbaute. Infolgedessen
produzierte er 2013 einen Film mit der Idolgruppe AKB48 über eine Schülerin,
die nach dem 11. März aus der Stadt Minamisōma in der Präfektur Fukushima nach
Nagaoka geflüchtet ist (vgl. Koike 2013). Mit Kono sora no hana begründete Ōbayashi seinen Ansatz des Essayfilms,
den er in Nanoka fortgesetzt und
weiterentwickelt hat. Nanoka spielt
in der Kleinstadt Ashibetsu auf Hokkaidō und erzählt die Geschichte des
ehemaligen Arztes Suzuki Mitsuo und seiner Familienmitglieder. Im Laufe der
Handlung werden die Kriegsvergangenheit Japans und gleichzeitig die Lage des
Landes zwei Jahre nach „Fukushima“ reflektiert.
Die
zentralen Fragen dieser Arbeit
sind folgende: Wie stellt Ōbayashi filmisch die beiden historischen Ebenen
Zweiter Weltkrieg und „Fukushima“ dar und wie setzt er sie in einen Kontext?
Und ferner: Welche Konsequenzen werden im Film aus „Fukushima“ in Bezug auf die
Kriegsniederlage und für die Zukunft Japans gezogen und wie lassen sich diese
in den Post-Fukushima-Diskurs einordnen?
Zu Beginn
werden in Punkt 2.1 zusammenfassend Positionen innerhalb des Post-Fukushima-Diskurses,
insbesondere in Hinsicht auf den Zweiten Weltkrieg, dargelegt. Anschließend
folgt in 2.2 eine Einordnung von Ōbayashis Positionen in das Meinungsgefüge. In
Punkt 3. erläutere ich Ōbayashis filmischen Ansatz eines Kinos nach „Fukushima“
(3.), wobei ich spezifisch auf seine Idee von einem „Cinema Guernica“ eingehe (3.1) und eine Einordnung von Nanoka in das Genre des Essayfilms
vornehme (3.2). Nach der Inhaltsangabe (4.) folgt die Filmanalyse, in der sich
mit den bereits im vorigen Abschnitt geschilderten Hauptfragen
auseinandergesetzt wird.
Für die
Erstellung dieser Arbeit liegt der Film Nanoka
in japanischer Sprache vor. Von besonderem Wert waren, mangels akademischer
Artikel über das Forschungsobjekt, Interviews und Beiträge in der
Filmzeitschrift Kinema junpō キネマ旬報
sowie die Autobiografie des Regisseurs (Ōbayashi 2008). Des Weiteren ist Philip
Kaffens Artikel „In Time for the War: 3/11 After Cinema“ zum Vorgängerfilm Kono sora no hana von großen Wert
gewesen (2017). Für die Darlegung des „Fukushima“-Diskurses dienten vor allem
die Zusammenfassungen von Gebhardt (2014) und Richter (2012). Bei der
Genreeinordnung half der Sammelband „Der Essayfilm. Ästhetik und Aktualität“
(Kramer und Tode 2011).
2. Kriegsniederlage
und Wiederaufbau im Kontext des „Fukushima“-Diskurses
Auch im speziellen Kontext der Niederlage im Zweiten
Weltkrieg ist die Zahl der Meinungsäußerungen zu „Fukushima“ nur schwer zu
überblicken. Die Unmöglichkeit einer quantitativen wie qualitativen Analyse der
„Vielfalt von Verlautbarungen“ zu diesem Thema problematisierte bereits Richter
(2012: 96). Daher wird im Folgenden auf Zusammenfassungen verschiedener
Positionen aus der Forschungsliteratur zurückgegriffen, um anschließend einen
ausführlichen Überblick über Ōbayashis Äußerungen innerhalb des Diskurses
darzulegen.
2.1 Übersicht des
Diskurses
Die Kriegsniederlage als Trauma und kollektiv empfundener
Tiefpunkt des nationalen Narratives Japans mag auf den ersten Blick als
Vergleichspunkt für „Fukushima“ weit hergeholt scheinen, zumal der
Reaktorunfall von Tschernobyl im Kontext der Verstrahlung naheliegender ist.
Tatsächlich offenbart sich hierin die „Metadimension des Unglücks“ (Richter
2012: 96). Das heißt, der „Fukushima“-Diskurs beschränkt sich nicht nur auf die
Ursachen, die zur Atomkatastrophe geführt haben und deren Folgen für die
Gesellschaft. Stattdessen wird der 11. März in einen größeren historischen
Kontext gesetzt und im Sinne verschiedener Positionen interpretiert und
instrumentalisiert. Durch diese Ausweitung des Interpretationsraumes gerät zum
einen die eigentliche Katstrophe, die zeitlich (3.11) und räumlich (Nordostjapan)[7]
beschränkt wird, in den Hintergrund (vgl. Thouny 2017: 12).[8]
Zum anderen sieht man in „Fukushima“, dem von der
Katastrophe abstrahierten Begriff, eine Möglichkeit zur Reflexion über die
Entwicklung Japans seit 1945 und eine Möglichkeit für gesellschaftlichen Wandel
(vgl. Gebhardt 2014: 15). Die Kontextualisierung des Zweiten Weltkrieges im
„Fukushima“-Diskurs dient folglich nicht nur dazu, die Ausmaße der Staatskrise
(kokunan 国難) und der Hilflosigkeit
(muryoku 無力) in einen
nationalhistorisch greifbaren Kontext zu setzen.[9]
Vielmehr wird über die Dreifachkatastrophe als historische Zäsur die zukünftige
Entwicklung des Landes im Rückblick auf die Kriegs- und Nachkriegsgeschichte
Japans verhandelt.
Ein
Vergleich mit der Nachkriegssituation findet sich in Aufrufen an das nationale
Kollektiv bereits kurz nach der Dreifachkatastrophe in Äußerungen von
Journalisten, Intellektuellen und Künstlern. So bemerkt Gebhardt:
A comparison with the end of the Second World War and the use of military terminology has frequently been employed to describe the situation in post-Fukushima Japan. Against this backdrop it was possible to speak of “national emergency” (kokunan) and to invoke national unity and collective solidarity. The reaction also generated slogans such as “Stick it out, Japan!” (Ganbare Nippon), “Time now to become one” (ima, hitotsu ni naru toki), “Japan is a strong country” (Nihon wa tsuyoi kuni da), “Towards the reconstruction of a new Japan” (Atarashii Nihon no fukkō e) and “team spirit” (danketsu) or “bonds” (kizuna). Referred to as “reconstruction nationalism” (fukkō nashonarizumu), in whose language “Fukushima” functions as national imperative and as an invocation of the national collective. (Gebhardt 2014: 13)
Obwohl die wenigsten Reaktionen vergleichbar radikal waren,
ist der inflationäre Gebrauch von Slogans bemerkenswert, von denen ein Großteil
der politischen Instrumentalisierung von „Fukushima“ zur Stärkung des
Nationalgefühls dient.[10]
Dazu bemerkt Raddatz: „Sie [die Dreifachkatastrophe] führte in der Folge zu
nationalistischen Ausdrucksformen, die zwischen Durchhalteparolen und der
Verklärung des eigenen ‚Nationalcharakters‘ oszillierten“ (2013: 350). Das
verstärkte Auftreten rechtsnationaler Positionen bezeichnet Radditz als „Post-Fukushima-Nationalismus“
(ebd.). So wird der konservative Kritiker Satō Seiji zitiert, der mit der neuen
historischen Zäsur die Befreiung vom negativen „Nachkriegsimage“ Japans
herbeisehnt (ebd.: 354). Neben revisionistischen Positionen findet hier auch
Kritik an der Konsumgesellschaft Anklang. Allen voran bezeichnete der ehemalige
Gouverneur Tōkyōs, Ishihara Shintarō, den Tsunami als „göttliche Strafe“ für
den Egoismus seiner Landsleute (vgl. McCurry 2011). Dieser Wunsch eines
Rückbesinnens auf „traditionelle japanischer Werte“ wie etwa Selbstlosigkeit
verdeutlicht zudem die Nähe des „Fukushima“-Diskurses zum japanischen Diskurs
über nationale Identität (nihonjin-ron
日本人論)
(vgl. Richter 2012: 96).
Jedoch
finden sich auch außerhalb des rechtsnationalen Lagers ähnliche Positionen. So
sieht die Schriftstellerin Yoshimoto Banana „das eigentliche Wesen der
japanischen Seele“ in der Selbstlosigkeit zum „Wohle aller“ (vgl. 2011). Ferner
kritisiert sie die „hässliche Seite der kapitalistischen Gesellschaft“ und die
Konsumkultur Japans, die mit der Zerstörung der Natur einhergehe (ebd.).
Konsumkritik in Form von
Recycling- und Reparaturangeboten trat bereits vermehrt im Zusammenhang
mit der Anti-Atomkraft-Bewegung auf (vgl. Richter 2012: 122). Auf linker Seite lassen sich zudem Kritik am
Verhalten der politischen Elite und an der Berichterstattung erkennen (vgl.
Radditz 2013: 353). Dennoch
sehen die japanische Linke wie die Rechte „the postwar as a problem and the
necessity of overcoming its legacy […] in order to set a new course for Japan
in the twenty-first century” (Yoshimoto 2017a: 208). Für beide Lager ist
„Fukushima“ mit einem Rückblick auf den Zweiten Weltkrieg verbunden, sowie mit
einer Fundamentalkritik an der Entwicklung Nachkriegsjapans zu einer
Konsumgesellschaft, die sich von ihren „traditionellen Werten“ entfremdet habe.
Für die Teilnehmer des Diskurses geht es darum, wie Richter treffend bemerkt,
„ob 2011 eine Zäsur in der Geschichte Japans darstellt, die grundlegende
Veränderungen bewirkt hat – bzw. bewirken sollte“ (2012: 96). Demnach ist der
ersehnte Wandel für die Zukunft Japans den Diskursteilnehmern genauso wichtig
wie oder sogar von größerer Bedeutung als die tatsächlichen Veränderungen nach
„Fukushima“.
2.2 Ōbayashis
Positionen im Kontext des Diskurses
Ōbayashis Äußerungen zu „Fukushima“ reihen sich in
vielerlei Hinsicht nahtlos in den bisher dargelegten Diskurs ein. Wie Yoshimoto
Banana lobt er die „traditionellen Werte der Japaner“ (vgl. Koike 2013), die er
im Verhalten der Katastrophenopfer zu erkennen glaubt. Er kritisiert, was
hierzulande als „Wegwerfgesellschaft“ bezeichnet wird, und verbindet diese,
ebenfalls wie Yoshimoto, mit einer Missachtung von Kultur und Tradition, sowie
dem „Verlust der Seele“ (vgl. Furuya 2014).[11]
Derartige Aussagen sind selten differenziert und neigen zu nihonjin-ron-artigen Erklärungsversuchen.[12]
Seine
Ablehnung der Art des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg und dem
Siegeszug des Kapitalismus und der Konsumkultur in Japan begann allerdings
nicht mit „Fukushima“, sondern machte sich bereits in seinem früheren
filmischen Schaffen bemerkbar. Mit seinen Heimatfilmen (furusatō eiga 古里映画) widersetzte sich Ōbayashi dem Mainstream, denn er
drehte hauptsächlich in ländlichen Regionen, anstatt das im Zuge des
Wiederaufbaus als fortschrittlich idealisierte Tōkyō als Schauplatz zu wählen,
was dem Regisseur Kritik einbrachte (vgl. Furuya 2014). „Fukushima“ stellt für
Ōbayashi also keinen Anstoß zum Umdenken dar, sondern vielmehr eine Bestätigung
seiner Haltung und ein Anlass, diese konsequent weiterzuführen.
Die
Katastrophe dient in seinem
Filmschaffen nach „Fukushima“ also als Meta-Ereignis und wird nicht nur
im Hinblick auf die Ereignisse des 11. März und des AKW-Gaus betrachtet,
sondern im Rahmen eines größeren historischen Kontextes interpretiert. So
diskreditiert er insbesondere die Babyboomergeneration (dankai no sedai 団 塊 の 世 代 ), die Japan zum Wirtschaftsaufschwang verholfen hat, als
„Unternehmenssoldaten“ (kigyō senshi 企業戦士),
die sich bis heute in einem „Wirtschaftskrieg“ (keizai sensō 経済戦争) befänden (Inogai 2014: 21).[13]
Die im Zuge des Aufschwungs erbauten Atomkraftwerke sieht er als Zeichen dafür,
dass Japan „nichts aus der Kriegsniederlage gelernt habe“ (Masutō 2015: 156).[14]
Folglich stellt „Fukushima“ für ihn eine „zweite Kriegsniederlage“ dar, eine
Zäsur, in deren Folge für Japan die Möglichkeit bestehe, die in der
Nachkriegszeit „verlorene Seele“ zurückzuerlangen (Furuya 2014).[15]
Im
Gegensatz zum rechtsnationalen Lager, das mit ähnlichen Argumentationsmustern
nationalistische Gefühle und ein Erstarken der japanischen
Selbstverteidigungskräfte fordert (vgl. Raddatz 2013: 354), sticht Ōbayashi
durch seinen konsequenten Pazifismus und sein Engagement für den Schutz von
Bürgerrechten hervor.[16]
Die Kritik am Japan der Kriegszeit, der Wiederaufbauzeit sowie dem
Post-Fukushima-Japan lässt sich somit im übertragenen Sinne als Ausdruck seines
Pazifismus deuten. Jedoch ist die Bezeichnung von „Fukushima“ als „zweite
Kriegsniederlage“ nicht unproblematisch. Yoshimoto Mitsuhiru kritisiert diesen Vergleich als Fortführung
revisionistischer Geschichtsinterpretationen:
3/11 has revealed that by stubbornly refusing to accept its own defeat in WWII, Japan never came to terms with the full implications of this historical event. Therefore, calling 3/11 Japan’s second defeat is another unconscious attempt to disavow the first defeat as a historical event and to preserve the fiction of the postwar as a national narrative. (2017b: 32)
Dies macht Yoshimoto unter anderem an dem Gebrauch des
Wortes Kriegsende (shūsen 終戦)
anstelle von Kriegsniederlage (haisen
敗
戦
) fest (Yoshimoto 2017a: 208). Dahingegen bezeichnet sich Ōbayashi, der zur
Kriegszeit in der Präfektur Hiroshima aufgewachsen ist, als haisen shōnen 敗戦少年, also als Junge, der
die Kriegsniederlage erlebt hat (Maeno 2013: 137).[17]
Wenngleich Ōbayashi von Argumentationsmustern und Floskeln Gebrauch macht, die
auch im rechtsnationalistischen Feld zu verorten sind, kann man ihm keine
revisionistischen Tendenzen vorwerfen.
3. Ōbayashis
filmischer Ansatz: Film nach „Fukushima“
Die Dreifachkatastrophe hat, wie auch im Fall von Theater
und Literatur, eine Reflexion über die Möglichkeiten und Grenzen künstlerischer
Darstellung erzwungen, die Filmschaffende im gleichen Maße betrifft wie
Kunstschaffende anderer Darstellungsformen. Dies gilt insbesondere für die
Nuklearkatastrophe, da Verstrahlung nicht sichtbar ist und somit ungeeignet für
die Darstellung in einem visuellen Medium scheint. Dazu bemerkt Iwata-Weickgenannt:
Does ‘Fukushima‘ resist cinematic fiction? Literally hundreds of documentary films have been produced in the wake of 3.11 and screened at international film festivals and movie theaters around the globe. In contrast, fictionalized accounts of the calamity – in particular, of nuclear disaster – remain a rarity. (2017: 110)
Yoshimitsu hingegen zieht aus der visuell „unspektakulären“
Natur der Atomkatastrophe den gegenteiligen Schluss:
In contrast [zum Terrorismus], nuclear disaster fuels cinematic imagination precisely because it defies the logic of spectacle. In a global nuclear war, there would hardly be any survivors, and the absolute horror of nuclear apocalypse cannot simply be represented. (2017b: 33)
Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass Ōbayashi denselben
Begriff wie Yoshimitsu, „imagination” (sōzōryoku
想像力),
für seinen Ansatz gebraucht (2014a: 67). Damit begründet er die Auswahl der
Schauplätze, die bewusst außerhalb der von der Katastrophe betroffenen Gebiete
liegen. Stattdessen verwendet er verschiedene visuelle und narrative Techniken,
um „Fukushima“ atmosphärisch darzustellen. Näheres dazu folgt in Punkt 5.1 der
Filmanalyse.
Nichtsdestoweniger sollte
bemerkt werden, dass Ōbayashis Ansatz aus einstweiliger Resignation nach der
Dreifachkatastrophe entstanden ist. In einem Interview erklärte er: „After 3/11 I feel like the whole medium
of film has lost its power” (O’Keeffe 2014). „Fukushima“ stellt also
eine Zäsur und eine künstlerische Weiterentwicklung für Ōbayashi dar. Während
viele Stilmittel in Nanoka bereits im
frühen Schaffen des Regisseurs verortet werden können, beschäftigen sich die
folgenden Erläuterungen mit zwei neuen filmischen Ansätzen, dem „Cinema Guernica“ und dem Essayfilm, die
Ōbayashi als Reaktion auf die Katastrophe „entwickelt“ hat.[18]
3.1 Film als
Journalismus: Ōbayashis „Cinema Guernica“
Pablo Picasso Guernica (1937) |
Ein Begriff, den Ōbayashi im Hinblick auf seine eigenen
Filme unentwegt gebraucht und kaum näher erläutert, ist „journalistisch“ (jānarisutikku-teki ジャーナリスティック的)
(vgl. Ōbayashi 2008: 106; 126). Die eingängigste Definition gibt er, indem er
die Darstellungsform Film als „Spiegel“ bezeichnet, der „die jeweilige Zeit
reflektiert“ (Masutō 2015: 150).[19]
Journalistisch bezieht sich zuvorderst auf die Themenwahl und die Wiedergabe
der Lebenswirklichkeit der jeweiligen Zeit, quasi als Zeitdokument, nicht
konkret auf die Darstellungsform und Machart des Filmes. Wie bei einem
Journalist sei es die Aufgabe des Regisseurs, sich mit unbequemen Wahrheiten
auseinanderzusetzen (vgl. Ōbayashi 2008: 250). Diese Auseinandersetzung erfolgt
in seinen Filmen allerdings nicht mit den Mitteln des Journalismus oder der
Dokumentation. Für seinen Ansatz begründet er den Begriff „Cinema Guernica“ (shinema gerunika シネマ・ ゲルニカ),
benannt nach dem Gemälde Guernica von Picasso,[20]
den er wie folgt erklärt:
Ich bezeichne diese beiden Filme als „Cinema Guernica“, das heißt: Journalismus, der nicht verblasst. Wenn man das Unheil des Krieges mit Fotografie oder realistischer Malerei festhält, möchte man [der Zuschauer] nicht hinsehen, sich nicht erinnern und vergessen. Doch seltsamerweise bleiben bei jenem Gemälde von Picasso, das aussieht, als hätte ein Kind es gemalt, gerade weil es interessant ist, jetzt und in Zukunft, kleine Kinder stehen und nehmen seine [Picassos] Friedensbotschaft auf. Meine Filme sind wie die kubistische Darstellung eines Gesichtes von der Seite auf dem zwei Augen zu sehen sind. Sie mögen schwer zu begreifen sein, aber man wird beim Sehen gewiss etwas Eindringliches empfinden. (Inogai 2014: 28)[21]
Ōbayashis „journalistischer“ Ansatz ist demnach kein
realistisch-dokumentarischer, sondern ein experimentell-assoziativer. Im
Gegensatz zu Filmen wie Sono Shions Kibōno kuni 希望の
国
(2012, engl. Land of Hope) werden dem Zuschauer in Nanoka keine Geigerzähler oder Schutzanzüge zur Visualisierung und
Konfrontation mit der Atomkatastrophe gezeigt.[22]
Um seine Friedensbotschaft zu vermitteln meidet, Ōbayashi direkte Darstellungen
und nutzt bewusst unnatürliche und unrealistische Darstellungsformen. Dadurch
sollen Zuschauer dazu angeregt werden, sich selbst kritisch mit dem
Dargestellten auseinanderzusetzen.[23]
3.2 Versuch einer
Einordnung: No no nana nanoka als
Essayfilm
Eine Einordnung von Nanoka
in ein bestimmtes Genre fällt deshalb schwer, weil Ōbayashi selbst neben dem
von ihm begründeten „Cinema Guernica“
von verschiedenen Definitionen Gebrauch macht.[24]
Der umfassendste und für das Verständnis und die folgende Analyse des Filmes
sinnvollste Begriff ist der des „Essayfilms“ (essē mūbii エッセームービー) (vgl. Ohara 2014). Die Wahl dieses Genres lässt
sich im Hinblick auf Ōbayashis Unzufriedenheit mit den Beschränkungen des
kommerziellen Films erklären.[25]
Der Filmemacher beruft sich
auf seine künstlerische Freiheit:
After March 11th and the nuclear disaster I wanted people to rethink post-war history again. I wanted to shoot this film as a documentary, a project of movie journalism. It is purely because of commercialism that there are only two types of movie format, the feature length and short movie. […] So right now I think I'm trying to break out of this regular format which I feel is very commercial and give film the power of free fantasy and make it more deliverable to the people. (vgl. O’Keeffe 2014)
Die Vorstellung, sich zwischen Spielfilm und Dokumentation
entscheiden zu müssen, lehnt er entschieden ab. Daher wurden seine Filme nach
„Fukushima“ allesamt durch Spenden, meist von der Stadtbevölkerung des
jeweiligen Drehortes, in Eigenproduktion als Independent-Filme produziert (vgl.
Masutō 2015: 151).[26]
Seine Ablehnung von Genreeinteilungen verbindet er überdies mit der in Punkt
2.2 erläuterten Kritik am Japan zur Zeit des Wirtschaftsbooms:
Übrigens haben Japaner, mit der Babyboomergeneration im Zentrum, seit der Phase des hohen Wirtschaftswachstums begonnen über Dinge im Einzelnen [kakuron] nachzudenken. Nicht im Blick auf das Gesamte, sondern aufgeteilt in verschiedene Genres [janru]. (Inogai 2014: 21)[27]
Um den strikten Konventionen des kommerziellen Films zu
entgehen und der von ihm attestierten Tendenz entgegenzuwirken, die Dinge
einzeln und getrennt (kakuron 各論),
anstatt im Gesamten (sōron 総論) zu
betrachten, versucht Ōbayashi in Form eines filmischen Essays, alle Ebenen
zeitlich und inhaltlich miteinander zu verbinden. Die Wahl dieser Form dient
also nicht allein der ästhetischen Präsentation, sondern vor allem der
Verbindung mehrerer Kontexte, die, wie Ōbayashi selbst ausführt, als kakuron keiner logischen Kohärenz
unterlägen. Als sōron jedoch seien
die kriegerischen Auseinandersetzungen auf Südsachalin, die in Nanoka thematisiert werden, und die
Dreifachkatastrophe vom 11. März miteinander verbunden (vgl. ebd.: 28).
Es ist
allerdings bemerkenswert, dass Ōbayashi an keiner Stelle auf den bereits
filmwissenschaftlich etablierten Begriff
des Essayfilms verweist oder auf damit in Verbindung gebrachte Regisseure wie
Sergej Eisenstein oder Alain Resnais Bezug nimmt. Stattdessen bezieht er
sich auf ein literarisches Vorbild, das Tsurezuregusa
徒然草
(engl. Essays in Idleness), welches dem japanischen zuihitsu-Genre zuzuordnen ist, und sich durch die Wiedergabe
subjektiver, spontaner Eindrücke auszeichnet (vgl. O’Keeffe 2014). In Anlehnung
daran macht Ōbayashi vom Begriff zuisō
eiga 随想映画
(Film über beiläufige Gedanken) Gebrauch, den er synonym mit Essayfilm
verwendet (Inogai 2014: 23). Damit betont er vor allem die Unordnung und den
bewussten Mangel an Kohärenz und Kausalität in der filmischen Präsentation
seiner Gedankengänge (vgl. O’Keeffe 2014).[28]
Ungeachtet
dessen lässt sich der Begriff Essayfilm nach seiner filmwissenschaftlichen Definition
problemlos auf die Filme Kono sora no
hana und Nanoka anwenden. So
heißt es bei Ehmann, der Essayfilm sei „eben etwas Anderes, Besonderes, in
Abgrenzung zu den Populärformen des dokumentarischen und des fiktionalen Kinos.
Er bedient sich bei allen Filmsorten, ohne sich jedoch irgendeinem Genre
verpflichtet zu fühlen“ (2011: 89). Der Begriff Essayfilm dient also in erster
Linie der Abgrenzung von Spielfilm und Dokumentation, beschreibt aber zudem
Freiheit bei der Überschreitung von Genregrenzen.[29]
Ferner stellt Ehmann fest: „Der essayistische Film ist also vor allem ein
auktorialer, reflexiver Film“ (ebd.: 91).
So liegt
der Fokus bei Nanoka nicht auf dem
Erzählen einer stringenten Handlung oder auf der objektiven Dokumentation der
Kriegsereignisse und der Geschehnisse in Japan während und nach „Fukushima“.
Vielmehr wird hier die subjektive Sicht und persönliche Reflexion Ōbayashis in
mehr oder minder auktorialer Form wiedergegeben. Dies geschieht allerdings
nicht durch eine kommentierende Stimme aus dem Off: die Schauspieler seien lediglich das „Sprachrohr
für die Gedanken“ des Regisseurs (vgl. Ohara 2014).[30]
Zudem sind
im Essayfilm Äußerungen des Regisseurs oft als Kritik am jeweiligen Mainstream
gedacht und dienen zur Formulierung „oppositionelle[r] Standpunkte“ (Kramer und
Tode 2011: 23). Im Fall von Ōbayashi trifft dies auf seine Kritik am
politischen Mainstream und an der Konsumgesellschaft zu. Auch der vorhin
erwähnte bewusste Verzicht auf Stringenz und Kausalität in der Darstellung der
Filmhandlung und Figurenentwicklung lässt sich definitionsgetreu als Merkmal
des Essayfilms klassifizieren (vgl. Bender und Brunner 2012). Die in der
folgenden Inhaltsangabe dargelegte Handlung und die vorgestellten Figuren
stehen also nicht im Zentrum des Filmes, sie dienen Ōbayashi lediglich als
Gerüst, um seine Reflexionen dem Zuschauer zu vermitteln.
4. Inhaltsangabe
Stammbaum der Familie Suzuki |
5. Filmanalyse
Die folgende Filmanalyse ist grob in zwei Punkte
unterteilt, die sich mit den in der Einleitung gestellten Kernfragen
auseinandersetzen. In 5.1 und den jeweiligen Unterpunkten richtet sich der
Fokus der Analyse auf die formalen Aspekte des Filmes. Anhand mehrerer
ausgewählter Szenen wird dargelegt, wie Ōbayashi eine Einheit der verschiedenen
Zeit- und Inhaltsebenen filmisch erzeugt. Darauf folgt in 5.2 eine inhaltliche
Auseinandersetzung mit den jeweiligen Positionen, die ausgewählte Filmfiguren
im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg und zu „Fukushima“ beziehen.
5.1 Filmische
Darstellung von Gleichzeitigkeit
5.1.1 Narrative
Inszenierung durch Überlagerung von Zeit- und Bedeutungsebenen
Die Rahmenhandlung von Nanoka,
die in der filmischen Gegenwart spielt, beginnt im März 2013 und umspannt
ungefähr acht Wochen. Nachdem Mitsuo ins Krankenhaus eingeliefert wurde, wo er im Koma liegt, treffen in Kapitel 2 nach und nach seine Familienangehörigen ein, um dem Moment seines Todes beizuwohnen. Inhaltlich dient dieses Kapitel
dazu, einen Großteil der Figuren, vor allem aus der Familie Suzuki,
vorzustellen und deren Verhältnis zu Mitsuo und zueinander zu beleuchten.
Darüber hinaus werden durch Kameraführung, Schnitte und Dialoge assoziative
Verbindungen zwischen „Fukushima“ und Japan zur Kriegszeit hergestellt. Zudem
werden mit der Überlappung verschiedener Zeitebenen sowie dem Nebeneinander von
Lebenden und Toten die zentralen Themen des Filmes bereits hier etabliert.
Beginnend
mit Tanaka Eiko (Hidari Tokie), der Schwester Mitsuos, kommen vereinzelt die
verschiedenen Familienangehörigen im Krankenhaus an. Das Tempo der Dialoge und
der Schnitte steigt stetig mit der Anzahl der Figuren im Krankenzimmer. Obwohl
Mitsuos Tod jeden Moment eintreten könnte, ist die Stimmung zunächst heiter und
vom Wiedersehen der 13 verschiedenen Figuren geprägt. Es folgen
Alltagsgespräche über die jeweiligen Verwandtschaftsbeziehungen zum einen, um
die Zuschauer zu informieren, zum anderen, um zu zeigen, dass die Figuren
untereinander kaum Kontakt gepflegt haben. So erklärt Eiko Mitsuos Urenkelin
Kasane (Yamazaki Hirona), die sie das letzte Mal als Kind gesehen hat, dass das
„ei“ in ihrem Namen mit demselben
Schriftzeichen (英)
wie in eikoku 英国 (England) geschrieben
würde. Zur Kriegszeit, scherzt sie, sei ihr der Name deshalb unangenehm gewesen
(vgl. Ōbayashi 2014b: 17). Neben Wortspielen und Scherzen ähnlicher Art
kommentiert auch Mitsuo vom Krankenbett aus das Geschehen. Dies findet nicht
als Interaktion statt, da er auf der Handlungsebene bewusstlos ist, sondern als
Kurzkommentare und Einwürfe, die von seiner Umgebung jedoch nicht bemerkt
werden. Im Dialogwechsel zeigt die Kamera immer wieder auf Mitsuo, der mit
geschlossenen Augen und Atemmaske auf dem Gesicht zu sprechen beginnt. Man
könnte also sagen, er tritt bereits vor seinem Tod als Geist auf und mischt
sich unbemerkt unter die Lebenden.
Das Tempo der Dialoge, der Schnitte und der
Hintergrundmusik ist rasant und die Gesprächsthemen wechseln schnell und
inkohärent.[34]
Kasane und Akito unterhalten sich über eine Ausgrabung der Hokkaidō
Universität, an der die Erstgenannte studiert. Derweil erwähnt Eiko, dass sie
Haruhiko, den einzigen Familienangehörigen, der noch nicht eingetroffen ist,
nicht mit dem Telefon erreichen kann. Infolgedessen wird erstmals erwähnt, dass
Haruhiko bei einem Atomkonzern arbeitet und mit der Stilllegung des AKW Tomari
beschäftigt ist. Aufgrund seiner Arbeit wird er dem Tod seines Großvaters nicht
beiwohnen können. Der Dialog entwickelt sich wie folgt:
Akito: Ob Onkel Haruhiko noch in Tomari ist?
Fuyuki: Stimmt, es ist jetzt schon ein Jahr her [seit er nach Tomari versetzt wurde].
Eiko: Es heißt, die Arbeit dort hätte zugenommen seit die AKWs gestoppt wurden.
Kasane: Danach… [trinkt Kaffee] Lecker! (Ōbayashi 2014b: 19)[35]
Damit findet „Fukushima“ erstmals Einzug in die Handlung,
wobei die Atmosphäre immer noch von Humor und Wortspielen geprägt ist. In dem
Moment, da Kasane mit „danach“ (ano ato
あのあと)
auf die Dreifachkatastrophe hindeutet, ohne diese beim Namen zu nennen,
unterbricht sie selbst ihre Vertiefung durch den spontanen Ausruf „lecker“ (uma‘うまっ), der im Japanischen als betonter
Ausruf homophon mit dem Wort „Pferd“ ist. Damit bezieht sie sich auf das oben
erwähnte Gespräch mit Akito über eine Ausgrabung, bei der Pferdeknochen
gefunden wurden. Später stellt sich heraus, dass der Anlass für die
Ausgrabungen die Suche nach Gebeinen ehemaliger koreanischer Zwangsarbeiter
war. Kurz darauf wechselt das Gesprächsthema wieder zurück zu „Fukushima“:
Kasane: Das AKW in Tomari ist das letzte, das in Japan vom Netz genommen wird.
Fuyuki: Was sollen wir/soll er von jetzt an machen?
Akito: Das Problem ist doch, dass sie überhaupt erst gebaut wurden.
Eiko: Von Fukushima aus über ganz Japan. Jetzt erreicht es auch uns.
Mitsuo: (bewusstlos) Die Feinde greifen von überall an!
Eiko: Wird das denn niemals ein Ende haben? (ebd.: 19-20)[36]
Auch hier findet sich anfangs ein Wortspiel. Tomari ist ein
Dorf auf Hokkaidō, in dem die einzigen AKWs auf der nördlichen Insel betrieben
werden, tomari bedeutet aber
gleichzeitig auch „Stopp“ oder „Ende“. Fuyukis Textzeile ist doppeldeutig und
kann sich auf die Lage ganz Japans nach dem Abschalten der AKWs beziehen, meint
jedoch höchstwahrscheinlich Haruhikos Arbeitssituation. Darauf sagt Akito zu
sich, dass die Erbauung der AKWs das Problem sei, im Kontrast zu
Naturkatastrophen wie Erdbeben und Tsunamis. Nach Eikos Bemerkung, die
„Auswirkungen“ von „Fukushima“ haben nun auch den Rest des Landes erreicht,
spricht Mitsuo, im Koma liegend, vom Feindesangriff. Hiermit wird „Fukushima“
anhand der Gefahr von AKWs und Strahlung erstmals zwar in keinen kausalen, aber
in einen assoziativen Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg gesetzt. Die
„Feinde“, die von überall aus angreifen, sind in Mitsuos Erinnerungen die
sowjetischen Truppen, die Japan gegen Ende des Krieges attackiert haben. Im
Kontext von „Fukushima“, der nur durch die Dialogfolge hergestellt wird, könnte
damit im übertragenen Sinne die radioaktive Strahlung gemeint sein, ein
unsichtbarer Feind. Die dramatische Musik steigert sich und erreicht in Eikos
abschließenden Worten ihren Höhepunkt. Obwohl die Atomkraftwerke abgeschaltet
werden, sieht sie keinen Grund zur Erleichterung. Ihr ernüchterndes „Wird das
denn niemals ein Ende haben?“ stellt „Fukushima“ in den Kontext weiterer
Atomkatastrophen, von Hiroshima und Nagasaki über die Nukleartests am
Bikini-Atoll, von denen auch japanische Fischer betroffen waren. Eiko wirkt
abwesend, als sie sich zur Lage der Nuklearkrise in Japan äußert. Es scheint,
als würde sie sich vielmehr auf ihre eigene Jugend zur Zeit des Zweiten
Weltkrieges beziehen. Dieser Eindruck wird dadurch bestärkt, dass die
Rückblende im Vergleich zur Gegenwart wesentlich farbintensiver und heller
gestaltet ist. Hier wird das umgesetzt, was bereits früh im „Fukushima“-Diskurs
Anklang findet. Im Zuge der Katastrophe seien die alten Kriegserinnerungen und
verdrängten Traumata an die Oberfläche gekommen. So heißt es bei Kaffen: „The war was already
there like a wound. 3/11 seemed to expose it festering beneath everyday
life” (2017: 173). Dies ist auch eine Beobachtung, die Ōbayashi in Vorbereitung
auf den Dreh von Nanoka gemacht hat.
Er berichtet, dass nach der Dreifachkatastrophe viele Menschen erstmals von
ihren Ängsten und Erfahrungen aus der Kriegszeit erzählten (vgl. Maeno 2013:
135).
Die
Überlappung der Zeitebenen wird auch mit direkten Zeitsprüngen dargestellt.
Unverzüglich nach Eikos Aussage springt die Handlung zu einer Szene aus der
Jugend von Eiko und Mitsuo, zur Anfangsphase des Pazifikkrieges. Die beiden
helfen bei einer Brandschutzübung mit dem Füllen von Wassereimern. An einem
Haus befindet sich der Propagandaslogan „Ich begehre nichts, bis zum Sieg“ (Hoshigarimasen, katsumade wa ほしが りません、勝つまでは)
(ebd.: 20). Kurz darauf wechselt die Szene wieder zurück in die Gegenwart. Im
Kontext von „Fukushima“ ließe sich der Aufruf zur Sparsamkeit in Kriegszeiten
mit den Sparmaßnahmen aufgrund des Strommangels durch die Stilllegung der AKWs
verknüpfen. Es fällt nicht schwer, weitere Assoziationsketten zu bilden, jedoch
sollen an dieser Stelle der Analyse nicht die möglichen Interpretationen des
Gesagten, die ohnehin kaum auszureizen sind, weiter beleuchtet werden.
Stattdessen folgt ein näherer Blick auf die Erzeugung dieses assoziativen
Effekts, durch den es Ōbayashi gelingt, in weniger als zwanzig Sekunden
verschiedene Zeit- und Deutungsebenen miteinander zu verknüpfen.
Die Verbindung aller Ebenen im großen Ganzen (sōron) ist Ōbayashis primäre Agenda:
In mir, der ich 1938 geboren wurde, hat sich alles miteinander verbunden: der Krieg, die Atombombe, die Erdbebenkatastrophe, die AKWs und der Wiederaufbau. Aus diesem Bewusstseinsstrom sind meine beiden Essayfilme entstanden. (Ohara 2014)[37]
Es ist also nicht verwunderlich, dass die Dialoge nicht
kohärent sind, sondern eher dem Fluss spontaner Gedanken (zuisō) ähneln. Dies hat zur Folge, dass die Figuren wirken, als
redeten sie aneinander vorbei oder sprächen zu sich selbst, statt miteinander,
was von Ōbayashi auch so beabsichtigt ist (vgl. Inogai 2014: 27). Die
Dialogstücke, die stellenweise nicht ineinandergreifen, sowie die schnellen
Schnitte und plötzlichen Zeitsprünge kreieren, trotz humoristischer Einlagen,
ein Gefühl des Unwohlseins. Kaffen beschreibt diesen Effekt in Bezug auf Kono sora no hana wie folgt:
To be sure, the experience of being launched into this sprawling, enveloping array of times and effects is bewildering, like being at war, both because of the speed of editing, and because of the narrative strategies involved seem to push past simple compositing, mere placing one image on top of another image; rather, it is as if one image smashes through another. (2017: 182-183)
Diese Beobachtung trifft ebenfalls auf Nanoka zu. Die Assoziation von „Fukushima“ im Kriegskontext wird
nicht nur auf inhaltlich-narrativer Ebene verhandelt, sondern bereits durch den
Schnitt und die rasante Bildfolge filmisch etabliert. Es ist, mit den Worten
Kaffens, als wäre man selbst im Krieg.
Ein Blick auf den Drehprozess, den Ōbayashi mit Kono sora no hana geändert und in Nanoka weitergeführt hat, bestärkt
diesen Eindruck:
Shooting was very similar to 3/11; it was very chaotic. Films are usually shot based on the completed script, but I do it differently, the shooting is very random. It's almost like making a sculpture and taking out little pieces and then putting them back in. (O’Keeffe: 2014)
Dieser „chaotische“ Effekt wird durch die Nachbearbeitung
weiter verstärkt. Den Dreh führte Ōbayashi mit vier Kameras durch, sodass er
beim Schnitt eine freie Auswahl
der Bildperspektive hatte. Bemerkenswert ist hierbei der Verzicht auf das Nachdrehen
von Szenen. Alle Schauspieler mussten ihren Text auswendig lernen und Dialoge,
wie der vorhin zitierte, wurden mit einem Dreh beendet (vgl. ebd.). Auch bei
falsch wiedergegebenen Textstellen verzichtete Ōbayashi auf eine Wiederholung.
Diese Ausführungen sind deshalb bemerkenswert, weil sie bereits in der Machart
eine Zäsur im Filmschaffen des Regisseurs darstellen, das in seiner Hektik,
Spontanität und seinem Chaos neue Ausmaße erreicht. „Fukushima“ wird also nicht
nur auf inhaltlicher oder auf assoziativer Ebene verarbeitet, sondern
durchzieht methodisch den gesamten Produktionsprozess, vom Dreh bis zum
Filmschnitt und der Nachbearbeitung.
Wie in
Punkt 3. bereits ausgeführt
wurde, findet die Handlung in Nanoka
nicht in den von der Dreifachkatastrophe betroffenen Gebieten oder auf dem
Schlachtfeld statt. Den Verzicht auf die Ästhetisierung von Kriegsereignissen
begründet Ōbayashi mit seiner Verantwortung als Regisseur und aus seiner
pazifistischen Haltung heraus (vgl. 2008: 238-240). Eine realistische
Darstellung des Krieges, egal wie grausam, bürge die Gefahr, dass junge Menschen von Zerstörung
fasziniert, anstatt dass sie pazifistisch geprägt würden (vgl. Masangkay
2017). Den Verzicht auf einen Dreh in Ostjapan beschloss Ōbayashi bereits bei
der Produktion von Kono sora no hana,
die aufgrund der Katastrophe unterbrochen wurde. Dies begründet er damit, dass
es im Film darum gehe, das nicht-alltägliche (hinichijō 非日常) im Alltag (nichijô
日常)
zu schaffen. Da die betroffenen Gebiete sich momentan aber in einem
nicht-alltäglichen Zustand befänden, sei es unverzeihlich, dies dort mit einem
Spielfilm zu illustrieren. Stattdessen müsse man seine „Vorstellungskraft
nutzen“ und nach Ostjapan „lauschen“ (vgl. Ōbayashi 2014a: 66-67).[38]
Statt mit Geigerzählern und Schutzanzügen „Fukushima“ oder durch
Bombenspektakel den Krieg plakativ darzustellen und grundlegende Ängste zu
bedienen, ist der Alltag der zentrale Punkt, von dem aus Ōbayashi die Folgen
und die Stimmung Japans nach „Fukushima“
zu „erlauschen“ versucht. Die Kleinstadt Ashibetsu kann somit stellvertretend
für jede beliebige japanische Stadt außerhalb der verwüsteten und verstrahlten
Gebiete stehen. Innerhalb des Alltagslebens werden die Kriegsereignisse
anhand von Mitsuo und Eiko als Zeitzeugen wieder in die Gegenwart getragen und
mit dem Kontext „Fukushima“ in der Gegenwart verwoben.
5.1.2 Leitmotiv der
Uhrzeit
Über die enorme Filmlänge von fast drei Stunden hinweg
macht Ōbayashi Gebrauch von mehreren Leitmotiven, um die verschiedenen Zeit-
und Bedeutungsebenen zu verbinden.[39]
Die Einheit von Zeit wird in Nanoka
zuvorderst dadurch dargestellt,
das alle Zifferblätter im Film dieselbe Uhrzeit anzeigen, nämlich 14:46
Uhr. Am 11. März 2011 begann die Dreifachkatastrophe von „Fukushima“ zu genau
dieser Uhrzeit. In Nanoka findet
diese zum ersten Mal nach dem Versterben Mitsuos direkte Erwähnung. Seine
Enkelin Kanna (Terashima Saki) bemerkt, dass der Todeszeitpunkt, 14:46 Uhr,
schon seit langem auf Mitsuos beschädigter Uhr angezeigt wurde (vgl. Ōbyayashi
2014b: 24). Hierzu darf nicht das vollständige Datum unerwähnt bleiben. Mitsuo
wird am 8. März 2013 eingeliefert und verstirbt drei Tage später, also am 11.
März, genau zwei Jahre nach der Dreifachkatastrophe.
Da
dieselbe Uhrzeit auf jeder Uhr in jeder Zeitebene im Film angezeigt wird, ist
sie auch auf Rückblenden lange vor 2011 sichtbar. Dies wird am eindringlichsten
in der Ausleuchtung von Mitsuos Vergangenheit verdeutlicht. Am 15. August 1945,
dem Tag, an dem Kaiser Hirohito die Kapitulation Japans im Zweiten Weltkrieg
über Radio verkündet (gyokuon hōsō 玉音放送),
kommen Mitsuo und Ayano in Südsachalin (damals Karafuto) an, um ihren Freund
Ōno, der als Soldat eingezogen wurde, nach Hokkaidō zurückzubringen. Dort
werden sie von einem Soldaten der sowjetischen Armee überfallen. Dass die
Konflikte trotz der offiziellen Kapitulation weitergingen, ist einer
historischen Ironie geschuldet. Während laut kaiserlichem Erlass jegliche
kriegerische Handlung unverzüglich beendet werden sollte, kam von Sapporo aus
der Befehl, Südsachalin bis zum letzten Soldaten zu verteidigen (vgl. Hasegawa
2005: 256- 258). Fatalerweise in diesen Konflikt hineingezogen, wird Mitsuo von
einem sowjetischen Soldaten überwältigt und verliert das Bewusstsein. Als er
wieder zu sich kommt und sich eine Zigarette anzünden will, fällt die
Zigarettenschachtel aus seiner noch zitternden Hand auf eine heruntergefallene
Uhr, die 14:46 Uhr anzeigt (Ōbayashi 2014b: 126). Er sucht anschließend Ayano
und erkennt, noch vom Schlag benommen, dass sie von dem Soldaten vergewaltigt
wird. Mitsuo greift eine Schaufel und erschlägt ihn im Affekt. Daraufhin bittet
Ayano ihn, auch sie zu töten (ebd.: 127-128). Seit diesem Moment ist Mitsuos
Uhrzeit, konkret und im übertragenen Sinne, stehen geblieben.[40]
Auf dieser Bedeutungsebene repräsentiert die stehengebliebene Uhr das
Kriegstrauma Mitsuos, der sich bis zu seinem Tod nicht von den Schuldgefühlen
und dem Tod seiner Liebe befreien kann. Für die Veranschaulichung von Mitsuos
Trauma hätte jede beliebige Uhrzeit ausgereicht. Es stellt sich also die Frage,
mit welchem Ziel Ōbayashi durch die Wahl der Uhrzeit den Sowjetisch-Japanischen
Krieg in den Kontext von „Fukushima“ stellt.
Zuerst
muss bei der Bearbeitung dieser Fragestellung beachtet werden, dass der
Essayfilm nicht auf „kausal begründeten Handlungen […] oder argumentativer
Stringenz“ aufbaut (vgl. Bender und Brunner 2012). Ein Interpretationsversuch
auf Basis von Kausalität würde implizieren, dass Mitsuos Tod im direkten oder
übertragenen Sinne eine Spätfolge von „Fukushima“ sei. Ferner könnte, wie in
Punkt 2.1. erläutert, die menschengemachte Atomkatastrophe von „Fukushima“ und
die Existenz von Atomkraftwerken in Japan als logische Folge der Entwicklung
des Landes seit der Kriegsniederlage gesehen werden. Wobei derartige
Interpretationen, wenngleich gewagt, nicht auszuschließen sind, ist der
assoziative Ansatz, den Ōbayashi mit den Mitteln des essayistischen Filmes
verfolgt, naheliegender. Im Film werden zwei nationale Traumata, die
Kriegsniederlage und die Dreifachkatastrophe, in dieselbe Zeit- und
Deutungsebene gesetzt. Dies dient, wie in Punkt 2.1 ausgeführt, dazu, die als
Zäsur empfundenen Ereignisse in einem nationalhistorischen Kontext greifbar zu
machen. Demzufolge sei Japan nach dem 11. März in eine ähnliche „Schockstarre“
gefallen wie zum Zeitpunkt der Kapitulation. Das deckt sich mit den
verschiedenen im „Fukushima“-Diskurs dargelegten Positionen, die einen
Vergleich zwischen beiden historischen Ereignissen herbeiführen. Ōbayashi
gelingt es durch das Leitmotiv, diese Assoziation eines Erstarrens filmisch
einzufangen. Ferner wird durch die Omnipräsenz der Uhrzeit die Signifikanz
beider Traumata in den Alltag eingewoben und nicht lokal oder zeitlich
begrenzt. Die an zahlreichen Stellen im Film gezeigten Uhren sind meist nur im
Hintergrund erkennbar und nicht, wie in den bisher besprochenen Szenen, durch Dialog
oder Kamerafokus hervorgehoben. Trotz des Wechsels zwischen Zeit- und
Deutungsebenen ist somit der bedrückende Stillstand, die Schockstarre des
Traumas durchgängig visuell erkennbar.
Trotzdem
endet der Film, den Ōbayashi als Zukunftsbotschaft an die jüngeren Generationen
verstanden sieht, nicht in Resignation und Hoffnungslosigkeit. In der
Schlussszene gelingt es Mitsuo mit seiner Vergangenheit Frieden zu schließen
und ins Nirwana einzutreten. Seine Armbanduhr beginnt zu ticken, was Mitsuo wie
folgt kommentiert: „Die Zeit hat begonnen weiterzufließen, der Zukunft
entgegen“ (Ōbayashi 2014b: 162).[41]
Welche Implikationen das Ende des Stillstands für die verschiedenen Figuren und
für die Zuschauer mit sich bringt, wird in den Punkten 5.2.1 und 5.2.2 ausgearbeitet.
5.1.3 Thema der
Reinkarnation als Beispiel assoziativer Mehrdeutigkeit
In der bisherigen Analyse wurde mehrfach der Fokus auf
Ōbayashis assoziativen Ansatz gelegt, der sich einer kohärenten Handlung und
Kausalitätsprinzipien widersetzt. Der eindeutigste Beleg hierfür lässt sich in
dem Motiv der Reinkarnation finden. Nobuko, die in ihrer Jugend Mitsuos
Arztpraxis aufsuchte, um dort als Krankenschwester zu arbeiten, nimmt in der
Handlung die Rolle der Wiedergeburt (yomigaeri
蘇えり)
von Mitsuos Jugendliebe Ayano ein. Sie verbindet somit die Welt der Lebenden
und der Toten. Für Ōbayashi sind diese beiden Welten nicht voneinander zu
trennen:
Ich bin mit der Wahrnehmung groß geworden, dass verstorbene Menschen an unserer Seite weiterexistieren und es keinen Unterschied zwischen Lebenden und Toten gibt. Ich glaube, früher sahen viele Japaner das so. (Furuya 2014)[42]
In dieser Hinsicht ist das stetige Auftreten des
verstorbenen Mitsuos in der gegenwärtigen Handlung der narrative Ausdruck von
Ōbayashis Ansichten. Dabei ist jedoch zu beachten, dass keine direkte
Kommunikation zwischen beiden Ebenen stattfindet.
Durch das Thema der Reinkarnation werden die Figuren Nobuko und Ayano in Verbindung gebracht und die Grenze zwischen beiden Welten verschwimmt weiter. Jedoch folgt
dies nur beschränkt einer kausalen Logik. Auf dem ersten Wochenamt nach dem Tod
Mitsuos erzählt Eiko, dass zur Zeit der sowjetischen Invasion von Südsachalin
japanische Krankenschwestern aus Angst vor den feindlichen Soldaten beschlossen
hätten, Gruppenselbstmord zu begehen (vgl. Ōbayashi 2014b: 71). Im Hintergrund
ist der Gesang der Frauen zu hören. In einem späteren Kapitel sind die
Krankenschwestern in einer Rückblende auf einer Schwarzweißfotografie zu sehen
(ebd.: 123). Kurz nachdem die Fotografie gezeigt wird, wechselt die Kamera
zurück zu Mitsuo, der die Ereignisse erzählt, woraufhin eine Sternschnuppe
gezeigt wird. Erneut ist der Gesang von Frauen zu hören sowie ein Stöhnen.
Dieses Stöhnen ist bereits einmal zuvor im Film zu hören gewesen, als Nobuko in
der Nacht nach Mitsuos Tod eine
Sternschnuppe sieht (ebd.: 33). Am letzten Tag der Trauerphase bestaunt Kasane
die Bergkirschblüten, woraufhin Nobuko still zu singen beginnt (ebd.: 146). Es
handelt sich um das „Lied der Bergkirschblüten“ (yamazakura no uta 山桜の歌). In dieser Szene wird deutlich, dass dieses Lied dem
Gesang der Krankenschwestern aus der vorhin genannten Szene entspricht. Einige
Sekunden später wird erneut die Schwarzweißfotografie aus der Rückblende
gezeigt, jedoch ist dieses Mal jede einzelne Krankenschwester durch Nobuko
ersetzt.
An
mehreren Stellen im Film wird also Nobuko direkt in Verbindung mit den
Krankenschwestern auf Südsachalin gebracht, ohne dass sich dies aus der
Kausalität der Handlung erschließen lässt. Abgesehen von Nobukos Anstellung als
Krankenschwester in Mitsuos Praxis besteht hier kein Zusammenhang. Zudem gibt
es keine Verbindung zwischen Ayano, als deren Reinkarnation Nobuko auftritt,
und den Krankenschwestern, außer der Tatsache, dass sie sich alle zum gleichen
Zeitpunkt auf Südsachalin befunden haben.
Auch
filmisch wirkt die vereinzelte und unzusammenhängende Platzierung dieser
Anspielungen inkohärent. Dies
lässt sich zum einen in Hinsicht auf Ōbayashis Nachbearbeitungsprozess
erklären: „[…] what I do is take that little piece out and put it somewhere
else and see what happens, maybe create a little dent and then put it back”
(vgl. O’Keeffe 2014). Die scheinbare Willkürlichkeit dieser Herangehensweise
kann jedoch mit dem Genre des Essayfilms begründet werden. So heißt es bei
Scherer:
Unter dem Vorzeichen des essayistischen Zweifels wird vor allem die Eindeutigkeit des filmischen Bildes in Frage gestellt, seine Referenzfunktion und seine scheinbare Objektivität, in der vergangene oder gegenwärtige Wirklichkeit unmittelbar zur Anschauung kommen soll. (2011: 147)
Durch die Präsentation der zweiten Fotografie, die alle Krankenschwestern mit dem Gesicht von
Nobuko zeigt und deren Bedeutung weder erklärt wird, noch aus der Handlung
heraus verständlich ist, wird der Zuschauer gezwungen das Gesehene anzuzweifeln.
Überdies verweigert Ōbayashi dem Zuschauer eine eindeutige zeitliche
Einordnung. Der Gesang der Krankenschwestern dringt in die Gegenwart, und
Nobuko dringt durch die Fotografie in die Vergangenheit ein. An dieser Stelle
zeigt sich am deutlichsten, dass die Assoziationen der verschiedenen Zeitebenen
in Nanoka weder einer narrativen
Kausalität folgen, noch in sich schlüssig sind. Beides ist von Ōbayashi so
beabsichtigt und zeigt seine Präferenz, „filmische Selbstreflexivität,
philosophische Reflexion, ein Denken, das nicht auf einliniger Kausalität
beruht und dem Zweifel Raum
lässt“, einer nachvollziehbaren Handlung vorzuziehen (ebd.: 144). Dadurch entsteht ein komplexes Gemisch aus verschiedenen Zeit- und Bedeutungsebenen, in dem sich weder Lebende noch Verstorbene, weder die Kriegszeit noch die Gegenwart voneinander trennen lassen. Im zweiten Teil folgt
nun die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Konsequenzen, die sich für die
Figuren aus den dargestellten Ereignissen ergeben.
5.2 Positionen zum
Zweiten Weltkrieg und „Fukushima“
5.2.1 „Nana nanoka“ als Phase des Umherirrens
und der Entscheidungsfindung
Laut buddhistischer Tradition wandeln Verstorbene für 49
Tage im Diesseits, bevor sie wiedergeborenen werden. Dem Verstorbenen ist es
allerdings kaum möglich, in dieser Zwischenphase Einfluss auf seine
Wiedergeburt auszuüben (vgl. Walter 2008: 268). In Nanoka wird die Frage der Wiedergeburt der Hauptfigur nur
nebensächlich behandelt. Im Vordergrund steht die Frage, ob Mitsuo mit seiner
Vergangenheit Frieden schließen kann oder nicht. Jedoch erweitert Ōbayashi den
Kontext dieser buddhistischen Bestattungstradition. So behauptet er, dass man
nun, drei Jahre nach der Erdbebenkatastrophe, sagen könne, die „49 Tage“ (shijūkunichi 四十九日) seien zu Ende (vgl.
Nakazaki 2014).[43]
Ähnlich wie die Seele eines Verstorbenen nach dem Tod in einer Zwischenphase
umherwandert, behauptet Ōbayashi Japan sei nach „Fukushima“ in einem ähnlichen
Zustand. Dies wird direkt im Film impliziert, als zu Beginn des Abspanns die
Textzeile „die 49-Tage auf dem
japanischen Land“ eingeblendet wird (Ōbayashi 2014b: 166).45 Der „Nana
nanoka“[44] wird
hier außerhalb des religiösen Kontextes als Phase des Umherirrens (samayoi さ迷い)[45]
und der Entscheidungsfindung für die verschiedenen Figuren, Lebende wie
Verstorbene, gesehen. Mitsuo verkündet in der Schlussszene des Films: „Nach dem
49. Tag gibt es keine Zweifel [mayoi]
mehr“ (ebd.: 160).[46]
In diesem Zusammenhang stellt nicht der 11. März 2011 eine Zäsur dar, sondern
das Ende des „dreijährigen Nana nanoka“.
Seit dem Erdbeben sind alle Uhren stehengeblieben, aber nach der Phase des
Umherirrens beginnt die Zeit erneut zu fließen. Wie im Folgenden erläutert
wird, treffen die verschiedenen Figuren ihre Entschlüsse und präsentieren diese
den Zuschauern, als Vertreter ihrer Generation und als Zukunftsweiser für
Japan.
5.2.2 Aufarbeitung
des Sowjetisch-Japanischen Krieges
Anhand der Figuren Mitsuo und dessen Jugendfreund Ōno wird
im Film der Zweite Weltkrieg am Beispiel des Sowjetischen-Japanischen Krieges
aufgearbeitet. Die Auseinandersetzung mit diesem historischen Konflikt hat
vordergründig einen Bildungsaspekt. Ōbayashi informiert die Zuschauer über
Mitsuo: „Der Krieg in Karafuto geschah, als alle Japaner glaubten, der Krieg
sei bereits vorbei“ (ebd.: 125).[47]
Ferner äußert sich Haruhiko: „Dass Japan nach dem 15. August mit der
sowjetischen Armee Krieg geführt hat, wissen die Menschen auf der Hauptinsel
nicht“ (ebd.: 71).[48]
Hier wird ein mangelndes Geschichtsbewusstsein
in der japanischen Gesellschaft kritisiert. Wie vermittelt Ōbayashi seine
Position zu diesem Konflikt und welche Konsequenzen ziehen die Figuren aus
der Kriegsvergangenheit Japans?
Der Krieg
wird im Film anhand von Einzelschicksalen und unter Auslassung des politischen
und gesamtgesellschaftlichen Kontextes illustriert. Mitsuos Pazifismus liegt in
der Sinnlosigkeit der Gewalt und des Todes von Ayano begründet. Seine Wut
richtet er gegen sich selbst, und auch gegen Ōno, den er für den Tod seiner
Jugendliebe mitverantwortlich macht, da Ayano seinetwegen nach Südsachalin
gereist ist. Mitsuo begegnet dem Geist des in der Gegenwart ebenfalls verstorbenen
Ōno (Itō Takao) und versöhnt sich am 49. Tag mit ihm. Dabei zeigt Ōno die
Fotografie einer russischen Frau, die er als seine Familie bezeichnet. Sie sei
die Frau des Soldaten, der Ayano vergewaltigt und den Mitsuo getötet hat.
Daraufhin erläutert Ōno: „Vor dem Krieg haben Japaner und Russen auf Karafuto
friedlich miteinander gelebt.“ (vgl. ebd.: 155).[49]
Anstelle einer Auseinandersetzung mit den noch bestehenden Folgekonflikten
dieses Krieges verweist Ōbayashi mit einer pathetisch-naiven Friedensbotschaft auf
eine Aussöhnung beider Seiten. Tatsächlich steht aufgrund des Konfliktes um die
‚Nordterritorien‘ - vier Inseln die nach Kriegsende zu sowjetischem Gebiet
wurden - ein Friedensvertrag mit Russland bis heute aus. Zudem wurde das
Eingreifen der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg in Japan als Verrat empfunden,
da dies eine Verletzung des Neutralitätspakts zwischen beiden Ländern
darstellte (vgl. Brown 2016: 1; 9-10). Diese Konflikte finden im Film keine
Beachtung. Es heißt lediglich aus dem Mund von Eiko: „Erobern und erobert
werden, so ist der Krieg“ (Ōbayashi 2014b: 78).[50]
Ōbayashi lässt beim Rückblick auf den Zweiten Weltkrieg die daraus entstehenden
Territorialkonflikte sowie Kritik an Machthabern in Japan und der Sowjetunion
zu Kriegszeiten außen vor. Wichtiger als alte und noch bestehende Konflikte
aufzuwerfen, scheint es, eine universelle Friedensbotschaft an die jüngere
Generation zu senden.
5.2.3 Positionen
nach „Fukushima“
Im Folgenden werden die Standpunkte verschiedener Figuren zur Zukunft Japans nach „Fukushima“ analysiert und im größeren Kontext als Stellvertreter von Generationen und Personengruppen eingeordnet. Doch zuvor muss erläutert werden, wen Ōbayashi als Vertreter des Wandels sieht, und wen er als Zielgruppe für seine Botschaft nicht ausgewählt hat. Bei einem Blick auf den Stammbaum der Familie Suzuki wird offenkundig, dass die Generation nach Mitsuo, die japanische Babyboomergeneration, nicht auftritt. Dies erklärt Ōbayashi damit, dass diese Generation nicht vom Krieg erzählen könne und deswegen für die Handlung irrelevant sei (vgl. Inogai 2014: 21). Hierin offenbart sich seine vielleicht bösartigste Kritik an der Nachkriegsgeneration. Er macht sie für die Entwicklung Japans und den „Wirtschaftskrieg“ seit dem Kriegsende verantwortlich und überspringt sie im Film, da sie der Enkel- und Urenkelgeneration nichts für die Zukunft mitgeben können. Ōbayashi selbst versteht Nanoka als „Brief“ an zukünftige Generationen, die aus der Vergangenheit lernen und eine „Welt ohne Krieg und Atomkatastrophen“ schaffen sollen (vgl. Inogai 2014: 32).[51]
Im Film
werden auch außerhalb der Familie Suzuki Figuren als Vertreter der jüngeren
Generation vorgestellt. Die folgende Analyse beschränkt sich allerdings nur auf
jene Familienmitglieder, die direkt zu „Fukushima“ Stellung beziehen. Die
verschiedenen Handlungsstränge der Familienmitglieder werden quasi in einer
Rahmenhandlung separat von der Haupthandlung um Mitsuo abgehandelt. Daher beziehen sich die meisten
Szenen der folgenden Analyse auf das erste Wochenamt (Sho nanoka 初七日; Kapitel 9), in dem die Figuren ihre Konflikte und
Standpunkte darlegen und das letzte Wochengedächtnis (Nana nanoka なななのか; Kapitel 15), an dem sie ihre jeweiligen
Entscheidungen verkünden.
Im Folgenden werden die Standpunkte verschiedener Figuren zur Zukunft Japans nach „Fukushima“ analysiert und im größeren Kontext als Stellvertreter von Generationen und Personengruppen eingeordnet. Doch zuvor muss erläutert werden, wen Ōbayashi als Vertreter des Wandels sieht, und wen er als Zielgruppe für seine Botschaft nicht ausgewählt hat. Bei einem Blick auf den Stammbaum der Familie Suzuki wird offenkundig, dass die Generation nach Mitsuo, die japanische Babyboomergeneration, nicht auftritt. Dies erklärt Ōbayashi damit, dass diese Generation nicht vom Krieg erzählen könne und deswegen für die Handlung irrelevant sei (vgl. Inogai 2014: 21). Hierin offenbart sich seine vielleicht bösartigste Kritik an der Nachkriegsgeneration. Er macht sie für die Entwicklung Japans und den „Wirtschaftskrieg“ seit dem Kriegsende verantwortlich und überspringt sie im Film, da sie der Enkel- und Urenkelgeneration nichts für die Zukunft mitgeben können. Ōbayashi selbst versteht Nanoka als „Brief“ an zukünftige Generationen, die aus der Vergangenheit lernen und eine „Welt ohne Krieg und Atomkatastrophen“ schaffen sollen (vgl. Inogai 2014: 32).[51]
Stammbaum der Familie Suzuki |
Haruhiko,
der zweitälteste Enkel Mitsuos, arbeitet bei einem Atomkonzern, der im Film
nicht namentlich genannt wird. Im neunten Kapitel entfaltet sich folgendes
Gespräch zwischen ihm und seinem älteren Bruder Fuyuki.
Haruhiko: Persönlich denke ich, dass wir mit der Atomkraft aufhören sollten.
Fuyuki: Das wird der Wirtschaft weiter schaden. Außerdem ist der Winter auf Hokkaidō anders als der auf der Hauptinsel. Glaubst du, du kannst im tiefsten Winter ohne Heizung leben?
Haruhiko: Die Realität ist hart. Im letzten Winter wurde nur für Hokkaidō eine Beschränkung des Stromverbrauchs gefordert. Das heißt, wir sind von thermischer Stromerzeugung abhängig und müssen wieder Kohle fördern. Aber Bruder, wenn wir nichts ändern, wird sich auch die Zukunft nicht änd… (Ōbayashi 2014b: 76)[52]
An dieser Stelle unterbricht Haruhiko das Gespräch aufgrund
eines Anrufes, vermutlich vom AKW in Tomari, an dessen Stilllegung er arbeitet,
und aufgrund derer er dem
Tod seines Großvaters nicht beiwohnen konnte. Bemerkenswert ist hier, dass
Haruhiko als Vertreter der Atomkonzerne im Film sich gegen die
Pro-Kernkraft-Argumente seines Bruders verteidigen muss. In Kapitel 15 greift
Fuyuki das Gesprächsthema erneut auf und fragt Haruhiko, ob er seine Arbeit im
AKW aufgeben wird. Darauf entgegnet Haruhiko:
Die Erschließung erneuerbarer Energien auf Hokkaidō ist beeindruckend. Es gibt den Plan, im Zuge des „Hokkaido Engery Changes 100-Projekts[53] beginnend mit Windkraft über Solarenergie und geothermische Energiegewinnung Hokkaidō bis 2050 zu einer Versorgungsquelle erneuerbarer Energien zu machen. Ich möchte eine solche Zukunft miterleben (Ōbayashi 2014b: 150)[54]
Damit wird die konkreteste Zukunftsvision für Japan im
gesamten Film dargelegt. Haruhiko propagiert eine Abkehr von der Atomenergie
mit allen Mitteln und insbesondere zu Gunsten von erneuerbaren Energien.
Anstelle einer direkten Kritik an der japanischen Atomlobby wird im Film das
System von innen heraus verändert. Schließlich ist es kein
Anti-Atomkraftdemonstrant, der im Film den Wandel heraufbeschwört, sondern der
Mitarbeiter eines Atomkonzerns.
Nach
Haruhikos Aussage wechselt das Gesprächsthema mehrfach, über Karafuto hin zum Bestreben der beiden Brüder, erneut zu heiraten. Der Dialog endet, indem
Haruhiko ein weiteres Mal an den „Fukushima“-Diskurs anknüpft.
Haruhiko: Es führt kein Weg daran vorbei, wir müssen uns verändern!
Fuyuki: Hm?
Haruhiko: Nachdem wir jenen 11. März erlebt haben.
Fuyuki: Wieso kommst du plötzlich darauf?
Haruhiko: Alle Wertvorstellungen wurden auf den Kopf gestellt. (ebd.: 151)[55]
Der Dialog greift hier, wie in vielen anderen Szenen des
Films, nicht ineinander. Haruhikos plötzliche Äußerungen lassen sich auch als
Monolog verstehen, der direkt an den Zuschauer und nicht an Fuyuki gerichtet
ist. Hier wird „Fukushima“ als Paradigmenwechsel empfunden, nach dem ein Zurück
zur Atomkraft nicht mehr vertretbar sei. Die Verantwortung dafür läge bei der
Enkel- und Urenkelgeneration, denen die Zukunft von der Großelterngeneration
anvertraut wurde. Daher schließt dieser letzte Dialog der beiden Brüder mit dem
Verweis darauf, dass ihr Großvater für sie gelebt habe und gestorben sei (vgl.
ebd.).[56]
Hiermit verbindet sich die Verantwortung, aus der Vergangenheit zu lernen,
sowohl in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg als auch auf „Fukushima“. Mit der Figur
Haruhiko positioniert sich Ōbayashi in seinem Film am vehementesten gegen ein
Fortführen der Atompolitik Japans und ruft zum Umdenken auf.
Jünger als
Haruhiko, aber ebenfalls Vertreter der Enkelgeneration, ist Akito, der nach dem
Verlust seiner Eltern mit seiner Schwester Kanna bei Mitsuo aufgewachsen ist.
Auch er hadert mit seinem Leben: Zum einen, weil er es nicht geschafft hat, als
Enkel in die Fußstapfen seines Großvaters zu treten und Arzt zu werden. Zum
anderen verliebt er sich in eine Frau, Ryōko, die nach Minamisōma ziehen
möchte, das zum Teil in der Sperrzone um das havarierte AKW liegt. Er ist
unentschlossen, ob er ihr dorthin folgen soll. Akitos Selbstfindung ist
untrennbar mit der Frage verbunden, wie Japan sich den betroffenen Gebieten und
den dort lebenden Menschen gegenüber verhalten soll.
Am „Nana nanoka“ verkündet Akito Kasane
seinen Entschluss: „Ich werde nach Minamisōma ziehen“ (ebd.: 152).[57]
Seine Entscheidung beruht auf einen Briefwechsel mit Ryōko, der bereits auf dem
ersten Wochengedächtnis angedeutet wird (ebd.: 77).
Aktio: Ryōko wird bald wieder nach Ashibetsu kommen.
Kasane: Aus Haramachi… Minamisōma?[58]Akito: Sie hat sich entschlossen, zusammen mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder nach Fukushima zurückzukehren. Sie wollen unbedingt ihre Heimat wiederaufbauen.
Kasane: Ausgerechnet jetzt?
Akito: Gerade jetzt ist die richtige Zeit. (ebd.: 153)[59]
Ryōkos Familie stammt aus Fukushima, ist aber nach
Ashibetsu gezogen. Bereits vor der Dreifachkatastrophe zog sie alleine in die
Heimat ihrer Mutter zurück. Gerade nach „Fukushima“ sei es wichtig, dort aktiv
beim Wiederaufbau mitzuhelfen (ebd.). Jedoch beschränkt sich dieser Aufruf
nicht auf all jene, die biografisch mit dem Nordosten Japans verbunden sind. In
einem Brief, den Ryōko mit einer Taube zu Akito geschickt hat, steht folgende
Botschaft geschrieben: „Lasst uns nicht allein zurück“ (ebd.). Nachdem er
Kasane den Brief zeigt, sagt er: „So fühlen sich momentan wohl alle Menschen in
Ostjapan (ebd.).[60]
Dabei spricht er „higashi nihon“ (東日本)
als „higashi nippon“ (東ニッポン)
aus, wobei nippon heimatlich bis
nationalistische Nuancen beinhaltet, während im Zusammenhang mit geografischen
Bezeichnungen wie Ost oder Nord eher das neutrale nihon benutzt wird. Durch Akitos Aussage wird die Zugehörigkeit der
betroffenen Gebiete zum Rest des Landes betont. Zum Schluss lädt er Kasane ein,
ihn eines Tages in Minamisōma zu besuchen.
Anhand der
Figuren Akito und Ryōko wird der Handlungsort Ashibetsu mit Minamisōma
verbunden, ohne jedoch den Handlungsort auf die betroffenen Gebiete zu
verlegen. Ōbayashis Botschaft richtet sich zuvorderst an den Rest des Landes.
Dadurch wirkt er nicht nur einer räumlichen Begrenzung der Katastrophe auf
Ostjapan entgegen, sondern auch der damit einhergehenden Distanz zu den
Problemen vor Ort, die sich weder zeitlich noch räumlich begrenzen lassen.
Ferner wird hier explizit die junge Generation mit einer Hoffnungsbotschaft für
den Wiederaufbau angesprochen. Akitos Selbstfindungsprozess endet in einer
Rückbesinnung auf die Heimat (furusato)
und die ländlichen Regionen, und damit einer Abkehr von Großstadt und Konsumkultur. Wie der
Wiederaufbau konkret aussehen soll, wird im Film nicht näher geschildert und
lässt sich nur aus Ōbayashis persönlichen Äußerungen erahnen (Punkt. 2.2).
Zum Schluss
erfolgt ein Blick auf Kasane, die einzige Vertreterin der Urenkelgeneration
innerhalb der Familie Suzuki. Die 20-jährige Studierende der angesehenen
Hokkaidō Universität wirkt kindlich und unbedarft. Als Altersgenossen von
Mitsuo nach der Beerdigung über den „Großasiatischen Krieg“ (daitōa sensō 大東亜戦争) sprechen, fragt
Kasane, um welchen Krieg es sich handele (vgl. Ōbayashi 2014b: 69). Dies mag
als Kritik am mangelnden Geschichtsbewusstsein der jüngeren Generationen Japans ausgelegt werden,
insbesondere hinsichtlich des
zunehmenden Ablebens der Zeitzeugengeneration. Andererseits empört sie
sich darüber, dass die Wasserstoffbombe, die auf dem Bikini-Atoll getestet
wurde, und in deren Folge ein japanisches Fischerboot verstrahlt wurde, den
Namen „Bravo“ (burabō ブラボー)
bekam (vgl. ebd.: 72). In einem späteren Gespräch über die Verbreitung der
Atomkraft in Japan bekräftigt sie ihren Standpunkt: „Ich bin auf jeden Fall
gegen Atomkraft“ (ebd.: 136).[61]
Während
alle drei Familienmitglieder eher als Sprachrohr für Ōbayashis Ansichten
fungieren, denn als eigenständige, runde Figuren, ist dies am Beispiel von
Kasane am offensichtlichsten. Ihr persönlicher Konflikt beruht auf der
Ablehnung gegenüber dem Wunsch ihres Vaters Fuyuki, erneut zu heiraten. Zu
„Fukushima“ und dem Zweiten Weltkrieg hat ihre Figur jedoch keinen direkten
Bezug. Andererseits tritt sie wesentlich informierter auf als andere Figuren,
zum Beispiel was das Atomprogramm Japans betrifft. In diesem Sinn stellt Kasane
die Vertreterin einer idealisierten, zukünftigen Generation dar. Sie ist
unbefangen und nicht vom Trauma der Kriegsgeneration oder der wirtschafts- und
konsumorientierten Nachkriegsgeneration gehemmt. Dennoch versucht sie aus den
Fehlern der Vergangenheit zu lernen.
Im Zuge
der Rahmenhandlung werden anhand dieser Figuren drei verschiedene Aspekte des
„Fukushima“-Diskurses beleuchtet: die Abkehr von der Atomkraft (Haruhiko), die
Zuwendung zu den Opfern der Dreifachkatastrophe (Akito) und die zukünftige
Generation, die beide Probleme in sich vereint (Kasane).[62]
Ōbayashi benutzt diese Figuren als Sprachrohr für eigene Meinungsäußerungen,
die er auch so in ähnlicher Form in Interviews und Auftritten kundtut. Dies
resultiert in einem Mangel an „durchgehende[n] Figurenzeichnungen“, der im
Essayfilm allerdings nicht unüblich ist (vgl. Bender und Brunner 2012). Die
Figuren werden vorgestellt, legen ihren Konflikt dar und haben am Ende ihre
Entscheidung getroffen, ohne dass dem eine entsprechende Figurenentwicklung zu
Grunde liegt. Sie funktionieren nicht innerhalb der kausalen Logik der
Filmhandlung, sondern als Stichwortgeber im „Fukushima“-Diskurs, deren Worte
eher an den Zuschauer gerichtet sind als an die anderen Figuren.
6. Diskussion:
Einordnung in den „Fukushima“-Diskurs
Mit Nanoka hat
Ōbayashi ein weiteres künstlerisches Statement im mittlerweile kaum
überschaubaren „Fukushima“-Diskurs geschaffen. Anstatt auf die Filmgattungen
des Spiel- oder Dokumentarfilms zu setzen, von denen vor allem letzterer einen
großen Beitrag des filmischen Schaffens zu dem Thema „Fukushima“ darstellt,
leistet Ōbayashi mit zwei Vertretern des Essayfilms einen neuen Beitrag zum
Diskurs. Die im Film essayistisch dargelegten Standpunkte sind daher als
Wortmeldungen innerhalb des Diskurses zu verstehen und können in dessen Kontext
eingeordnet werden.
Die größte
Gemeinsamkeit mit anderen Beiträgen des „Fukushima“-Diskurses ist die
Bezeichnung der Dreifachkatastrophe als historische Zäsur. Hierzu heißt es bei
Gebhardt und Masami:
Many artists proclaim that, with the disaster of Fukushima Daiichi, an irreversible paradigm shift has begun. They are protesting against a “Japanese system” whose failures are not only limited to the damaged nuclear plant, insisting that a day of reckoning has come for the nation’s technocratic system which has only accelerated since the 1960s (2014: 9).
Im Film wird dies von Haruhiko als „Umkehrung aller
Wertvorstellungen“ beschrieben (vgl. Ōbayashi 2014b: 151). Was genau diese
Wertvorstellungen umfassen und inwiefern sie sich gewandelt haben oder geändert
werden sollen, wird im Film nicht weiter ausgeführt, lässt sich aber anhand der
in 2.1 und 2.2 erarbeiteten Punkte erahnen. Für Ōbayashi stellt „Fukushima“ wie für viele andere Diskursteilnehmer ein Meta-Ereignis
dar. Es wird sich folglich nicht auf die Dreifachkatastrophe und die daraus
entstehenden Probleme beschränkt, sondern stattdessen wird ein wesentlich
größerer historischer Kontext gesucht. Dieser reicht bis zur Kriegszeit, wobei
Vergleiche mit dem Kriegsende als einer ähnlich tiefgreifenden historischen
Zäsur angeführt werden. Eine logische Verbindung zwischen den beiden historischen
Kontexten erschließt sich allerdings nicht. Denn die Dreifachkatastrophe wurde
weder durch feindliches Einwirken ausgelöst, noch lassen sich die Reaktionen
der politischen Führung Japans nach „Fukushima“ mit der imperialistischen
Agenda des Landes zur Kriegszeit vergleichen. Ōbayashis Ansatz, beide Ebenen in
Nanoka filmisch und erzählerisch
miteinander zu verschmelzen,
dient also nicht dazu, einer tatsächlichen Entwicklung künstlerischen Ausdruck
zu verschaffen. Vielmehr geht es darum, „Fukushima“ für eine gewünschte
Zeitenwende zu instrumentalisieren und als Anlass für einen Wiederaufbau des
Landes im Sinne der jeweiligen Ideologie des Diskursteilnehmers zu
interpretieren. Um welche Wertvorstellungen handelt es sich also, die sich im
Zuge der Katastrophe ändern sollen?
Im engeren
Kontext lässt sich Haruhikos Aussage als Kritik am Betreiben von AKWs verstehen. Im größeren Kontext
stellt die „Umkehrung aller Wertvorstellungen“ eine Fundamentalkritik am
Wiederaufbau Japans nach dem Zweiten Weltkrieg dar. Die Art des Wiederaufbaus Japans seit dem
Ende des Zweiten Weltkriegs bezeichnet er als „fehlgeleitet und
materialistisch“ (Obayashi 2014c: 6).[63]
Dies wird vor allem in Bezug auf Ōbayashis Kritik an der Babyboomergeneration
deutlich, die im Film durch ihre Abwesenheit gestraft sind. Wie Yoshimoto
Banana und Ishihara Shintarō glaubt er, einen Verfall „traditioneller
japanischer Werte“ im Zuge der kapitalistischen Wende des Landes hin zu
Egoismus und Rücksichtslosigkeit zu erkennen. Im Film wird jedoch auf direkte
Kritik an Wirtschaft und vor allem Politik verzichtet. Stattdessen vertreten
Figuren wie Akito und Kasane eine Alternative zum konsumorientierten
Mainstream. Ōbayashi, dessen Filmwerke oft in Provinzstädten gedreht wurden,
propagiert hier ein Rückbesinnen auf die Heimat. Dies wird insbesondere im
Selbstfindungsprozess von Akito deutlich, der sich dem Wiederaufbau in
Minamisōma widmen will.
Die
Großstadtmetropolen sind im Film nicht präsent, stattdessen steht Ashibetsu als
Schauplatz stellvertretend für japanische Kleinstädte, in denen zwar die
Geburtenrate, und damit die Wirtschaft, stagniere, nicht aber die „Seele“ der
Menschen (Ōbayashi 2014b: 159).[64]
Eine Rückkehr in die ländlichen Regionen und Kleinstädte steht hier
gleichzeitig für eine Abkehr von der Entwicklung Japans der Nachkriegszeit. So
heißt es in einem Interview des Regisseurs:
Dieser Frieden [seit der Kriegsniederlage] ist nicht mehr als eine große Umkehr hin zu amerikanischen Werten, die einherging mit einer Ablehnung von allem, was im Japan der Vorkriegszeit gut gewesen ist. (Furuya 2014)[65]
Hierin vereint sich die Kritik am amerikanischen Einfluss
seit dem Kriegsende mit einer Idealisierung
des Vorkriegsjapans. Mitsuo drückt dieses Unbehagen in ähnlicher Form
aus, indem er anklagt, Japan habe „die heimische Kultur weggeworfen und
stattdessen für den Fortschritt haltlos fremde Kulturen aufgenommen“ (Ōbayashi
2014b: 31).[66]
Derartige Aussagen rücken Ōbayashi und seinen Essayfilm in die Richtung
rechtsnationaler Positionen, die „Fukushima“ in den Kontext von Nationalismus,
historischem Revisionismus und antidemokratischen Entwicklungen des Landes zu
instrumentalisieren versuchen (vgl. Hoffman 2017). Bestätigt Nanoka derartige Tendenzen und inwiefern
lässt sich der Film als politisches Statement im „Fukushima“-Diskurs verorten?
Positionen
mit direktem Bezug zu politischen Entwicklungen lassen sich in Nanoka kaum finden. Haruhikos und Kasanes entschlossene
Ablehnung der Nutzung von Atomkraft stellt hier das prägnanteste Beispiel dar. Bereits in Bezug auf Ōbayashis
erstem Essayfilm Kono sora no hana
bemerkt Kaffen: „Obayashi’s is less a political than an ecological modernism”
(2017: 183). Auch in Nanoka
ist es nicht politischer Aktivismus, der zum Wandel führen soll, sondern eine
Rückbesinnung auf das Landleben und die dort noch existierenden „traditionellen
Werte“. Das ist insofern bemerkenswert, da Ōbayashi seine Figuren als
Sprachrohr benutzt, und als öffentliche Person nicht davor zurückscheut, am
politischen System oder der Regierung Kritik zu üben. Nichtsdestoweniger lassen sich die
verschiedenen, vordergründig apolitischen Standpunkte, die im Film auftreten,
in das politische Meinungsfeld des „Fukushima“-Diskurses einordnen.
Zuerst
muss an dieser Stelle die Aufarbeitung des Krieges im Zuge des „Fukushima“-
Diskurses betrachtet werden. Einhergehend mit der eindringlich wiederholten
Mahnung, es dürfe nie wieder zum Krieg kommen, wird der Zuschauer über
historische Fakten und Umstände in Kenntnis gesetzt. Das Beispiel des
Sowjetisch-Japanischen Krieges zeigt vor allem Japan als Opfer, insbesondere
anhand von weiblichen Figuren wie Ayano oder den Krankenschwestern auf
Südsachalin. Die sowjetische Seite findet nur sehr begrenzt durch Ōno als
Mittelsmann Gehör. Statt direkter Schuldzuweisungen auf eine der beiden Seiten
wird der Krieg vom subjektiven Standpunkt individueller Erfahrungen aus
aufgearbeitet. Infolgedessen sind alle Beteiligten Opfer des Krieges, wobei jedoch
eine Tendenz zur Opferstilisierung der japanischen Seite nicht zu leugnen ist.
Auch dies wurde bereits in der Auseinandersetzung mit dem Vorgängerfilm Kono sora no hana problematisiert:
As a war film steeped in nostalgia, set in a rural area, and replete with various claims about Japanese spirit and the return to traditional ways, the movie certainly trades in many problematic clichés about the experience of war in Japan. Critical writings on war films in Japan that aim to expose their nationalism or nostalgia for empire often point to the absence of any discussion of East Asia, portraying Japanese as victim-heroes, deceived by military authorities. From this perspective, one cannot but judge Casting Blossoms as a full-blown paean to nationalism. (Kaffen 2017: 172)
Dieser Kritik kann nur begrenzt zugestimmt werden. Vor
allem deswegen, weil mit der Thematisierung der sowjetischen Seite anhand der
Familie des Soldaten und der Ausgrabung koreanischer Zwangsarbeiter auch die
Opfer des japanischen Imperialismus im Film dargestellt werden. Ferner sind
keine revisionistischen Bestrebungen zu erkennen. Stattdessen ist Nanoka ein Aufruf, sich mit der
Kriegsvergangenheit Japans auseinanderzusetzen, mit keinem anderen Ziel, als
den Frieden aufrecht zu erhalten. Eine Beschönigung der Niederlage findet nicht
statt, was sich auch an der Betonung des Begriffes „Kriegsniederlage“ (haisen 敗戦) erkennen lässt.
Zweitens
ist eine Einordnung der Dreifachkatastrophe als eigenständiges Ereignis abseits
der Metaebene des Diskurses notwendig. Thouny übt Kritik an der Verwendung des Begriffs „3.11“:
The commonly accepted denomination “3.11” precisely aims to cancel the eventfulness of the catastrophe, its possibilities for change and opening, by reinscribing it inside a well-known postwar narrative of reconstruction and development and circumscribing its effects to a limited and closed time and place. “3.11” is indexed on the world time line, nicely finding its place in an American-led neoliberal order, “3.11” beside “9.11”, side by side, each its own trauma. (2017: 2)
Das würde implizieren, dass Ōbayashi mit seinem Versuch,
„Fukushima“ als historischen Wendepunkt zu inszenieren, genau jene
amerikanische „neoliberale Weltordnung“ festigt, deren Einfluss auf Japan das
ursprüngliche Ziel seiner Kritik darstellt. Während sich auch dies nicht
vollständig abstreiten lässt, finden sich in Nanoka keine Versuche, die Dreifachkatastrophe zeitlich oder
räumlich zu begrenzen und damit deren Auswirkungen zu relativieren. Im
Gegenteil: Durch das Leitmotiv der Uhrzeit und die Überlappung verschiedener
Zeit- und Bedeutungsebenen sind die Auswirkungen von „Fukushima“ immer präsent,
in Minamisōma wie in Ashibetsu.
Eine
abschließende Beurteilung der im Film dargelegten Positionen und Ōbayashis
filmischer Darstellung seines eigenen Standpunktes innerhalb des
„Fukushima“-Diskurses zeigt, wie oben dargestellt, Widersprüche, die eine
Verortung des Werkes erschweren. Einerseits sind viele Ansichten in Bezug auf
die Dreifachkatastrophe, etwa eine Rückbesinnung zur „japanischen
Selbstlosigkeit“, ähnlich dem Urteil Gebhardts über Yoshimoto Banana, eher
„naiv als nationalistisch“ (vgl. Gebhardt 2014: 24). Andererseits lässt sich Nanoka anhand der im Film dargelegten
Zukunftsvision für Japan, die eine Abkehr vom wirtschaftsliberalen Mainstream
mit einer universellen Friedensbotschaft verbindet, als Gründungswerk eines
linksliberalen „Wiederaufbau-Nationalismus“ bezeichnen.
7. Fazit
Der Film Nanoka
stellt nach Kono sora no hana
Ōbayashis zweiten Versuch dar, die Kriegsvergangenheit Japans im Zuge des
„Fukushima“-Diskurses aufzuarbeiten und auf Basis beider historischer Kontexte
eine hoffnungsvolle Zukunftsvision für Japan zu schaffen. Mit den Mitteln des
Essayfilms lässt er verschiedene Zeit- und Bedeutungsebenen, die durch keine
zwingende Kausalität verbunden sind, miteinander verschmelzen. Die titelgebende
buddhistische Trauerphase des „Nana
nanoka“ wird im Film im übertragenen Sinne als Phase des Umherirrens und
des anschließenden Umbruchs für Japan verstanden. Ōbayashi ist nicht allein mit
dem Wunsch nach einer historischen Zäsur, die den Weg für einen neuen
Wiederaufbau des Landes und eine bessere Zukunft, ohne Krieg und
Atomkatastrophen, ebnet.
Sieben Jahre nach „Fukushima“ und vier
Jahre nachdem Nanoka zum ersten Mal
aufgeführt wurde, sieht die Realität ernüchternd aus. Die seit der Katastrophe
wiedergewählte Liberaldemokratischen Partei, geführt von Premierminister Abe
Shinzō, leugnet die fatalen Schäden der Atomkatastrophe, ein Wiederanschluss
der stillgelegten AKWs wird bereits stellenweise durchgeführt (vgl. Thouny
2016: 1-2; Tagesschau). Die innenpolitischen Entwicklungen der letzten Jahre
stellen eine Abkehr vom „Friedensartikel“
der japanischen Verfassung und eine Rückkehr zu Militarismus und Autoritarismus
dar, die Parallelen zur Vorkriegszeit aufwirft (vgl. Hoffman 2017).
Wenn man
in Bezug zu „Fukushima“ überhaupt von einer Zäsur sprechen kann, dann stellt
diese das Gegenteil von dem dar, wofür sich Ōbayashi in seinem Filmschaffen und
als Pazifist, der den Krieg als Augenzeuge miterlebte, stets engagiert hat.
Im August 2016 wurde bei Ōbayashi
Lungenkrebs im vierten Stadium diagnostiziert (vgl. Masangkay 2017). Daher wird
Hangatami 花筐 (Blumenkorb), der im
Dezember 2017 erschien,
wahrscheinlich sein letzter Film sein. Auch dort spielt der Krieg eine
zentrale Rolle. Ōbayashis Friedensbotschaft bleibt in seinen Filmen erhalten.
Den Rest überlässt er, wie in Nanoka
bereits ersichtlich wurde,
den künftigen Generationen.
Nachtrag (01.10.2018):
Beim Fertigstellen dieser Arbeit im November 2017 rechnete ich jeden Morgen
damit, mit der Nachricht vom Tod Ōbayashis aufzuwachen. Diagnose Krebs im
Endstadium. Man sagte dem Regisseur im August 2017 er
habe nur noch sechs Monate zu leben. Und trotz Krebs, oder wie Ōbayashi
scherzhaft anmerkt, in einträchtiger Koexistenz mit dem Krebs, arbeitet er
unerbittlich weiter. Der Dreh zu seinem neusten Film Umibe no Eigakan: Kinema no Tamatebako 海辺の映画館-キネマの玉手箱 (Seaside movie theater: jewel
box of cinema) hat im Juli diesen Jahres begonnen. Er handelt von dem
Atombombenabwurf auf Hiroshima.[67]
- Jan
Lukas Kuhn -
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- WALTER,
Mariko N. (2008): The Structure of Japanese Buddhist Funerals. In: STONE, Jaqueline I. und Mariko N. WALTER
(Hg.): Death and the Afterlife in Japanese Buddhism.
Honolulu: University of Hawai’i Press. S. 247-292.
- YOSHIMOTO,
Banana (2011): Ein weiter Weg. In: greenpeace
magazine, Ausgabe 4,11; https://www.greenpeace-magazin.de/ein-weiter-weg
[Stand: 27.09.18].
- YOSHIMOTO,
Mitsuhiro (2017a): Conclusion: Capitalism and Atmosphere. In: THOUNY, Christophe und Mitsuhiro YOSHIMOTO (Hg.): Planetary Atmospheres and Urban Society after Fukushima. Singapore:
Palgrave Macmillan, S. 207-209.
- YOSHIMOTO, Mitsuhiro
(2017b): Nuclear Disaster and Bubbles. In: THOUNY, Christophe und Mitsuhiro YOSHIMOTO (Hg.): Planetary Atmospheres and Urban Society
after Fukushima. Singapore:
Palgrave Macmillan, S. 29-50
[1]
Richter stellt zum damaligen Zeitpunkt infrage, ob „Post-Fukushima-Japan“ eine
berechtigte Zäsur sei oder nur eine Illusion (vgl. 2012: 96). Der Fokus dieser Arbeit hingegen liegt eher
auf der Perspektive einer herbeigesehnten statt einer tatsächlich historischen
Zäsur, die im Werk von Ōbayashi Nobuhiko Ausdruck finden soll.
[2]
„Fukushima“ steht in Anführungszeichen, um eine Unterscheidung zwischen der
Dreifachkatastrophe und der Präfektur und Stadt Fukushima kenntlich zu machen.
Im Japanischen wird dieser Unterschied durch die Schriftweise in der
Katakana-Morenschrift verdeutlicht. Im Folgenden ist „Fukushima“ der bevorzugt
gebrauchte Begriff für die Dreifachkatastrophe und den damit verbundenen
Diskurs.
[3]
Von nun an wird der Titel im Haupttext abgekürzt als Nanoka wiedergegeben.
[4]
Der Film wurde 2015 auf der Nippon Connection und in der Japan Society mit
englischen Untertiteln aufgeführt (vgl. Nippon Connection 2015; Japansociety
2015). Eine Veröffentlichung außerhalb Japans fand jedoch noch nicht statt,
weshalb für diese Arbeit
keine Untertitel zur Verfügung standen.
[5]
Ōbayashi verwendet den Begriff eiga sakka
映画作家
in Abgrenzung zum herkömmlichen Begriff eiga
kantoku 映画監督, der für einen in einer Firma angestellten Regisseur
verwendet wird (vgl. 2008: 244-255).
[6] In
einem Interview erläutert Ōbayashi zum Beispiel, dass sein Horrorfilm Hausu als Parabel auf die Schrecken des
Zweiten Weltkrieges gedacht ist (vgl. O’Keeffe: 2014).
[7] Hierzu Gebhardt: “There is still a
tendency to speak of the catastrophe as merely a regional event, limited to the
northeast of the country” (2014: 11).
[8] Thourny argumentiert darauffolgend:
“In this discourse, “3.11” is already becoming “post-3.11”.”
[9]
Weitere Schlüsselbegriffe im Diskurs sind: “reconstruction” (fukkō 復興), “hope” (kibō 希望), “despair” (zetsubō 絶望)
(vgl. Gebhardt 2014: 12).
[10]
Begriffe wie „nationale Krise“ (kokunan)
gehen auf eine Kolumne des Journalisten Katsuya Masahiko zurück, dessen
Äußerungen als Kriegsrhetorik deklariert wurde (vgl. Ikeuchi, Takahashi und
Numano 2011).
[11]
Dieses Zitat wurde vom Verfasser dieser
Arbeit übersetzt. Der
Originaltext: 大林(おおばやし)「かつては立派な職人さんが大勢いて、家も時計も洋服も大切に修理して使う社会でしたが、古いモノは毛嫌いされ、伝統や文化への畏(おそ)れが薄れ、心が失 われてしまった。」
[12] Ōbayashi spricht in seiner Autobiographie in
Bezug auf eine Rückbesinnung zu traditionellen Werte vom „Erwachen“ einer
„ursprünglich japanischen DNA“ (honrai no
nihonjin toshite no DNA 本来の日本人としてのD NA) (2008: 229).
[15] Originaltext:
大林「3・11は2度目の敗戦でした。原発事故は経済戦争の大きな誤りを示した。けれど も、被災し、家族を失った方々が自分たちよりもつらい人々に手を差し伸べて、ふるさとを 取り戻そうとする姿に、僕が映画を通して伝えたかった、失われてしまった心を再発見でき ました」
[16]
So sagt Ōbayashi, der 9. Artikel der japanischen Verfassung, der Kriegseinsätze
unmöglich macht, solle geschützt werden, wie ein „Weltkulturerbe“ (sekai isan 世界遺産)
(vgl. Inogai 2014: 28). Zudem zählt er zu den öffentlichen Intellektuellen und
Künstlern, die sich gegen das umstrittene Staatssicherheitsgesetz (Tokutei himitsu no hogo ni kansuru hōritsu
特定秘密の保護 に関する法律) sowie das sogenannte Recht zur kollektiven Selbstverteidigung
(Shūdantekijieiken 集団的自衛権),
das eine japanische Kriegsbeteiligung in internationalen Konflikten ermöglicht,
aussprechen (vgl. Ōbayashi 2014d). Siehe auch: Masangkay: „Filmmaker Nobuhiko Obayashi devotes himself to a
message of peace via the big screen” (2017).
[17]
Demnach bezeichnet er seine beiden Filme nach „Fukushima“ als „letzte Arbeit
als Junge der Kriegsniederlage“ (haisen
shōnen toshite no saigo no shigoto 敗戦少年としての最後の仕事) (Maeno
2014: 137).
[18] So schreibt Kaffen über die Effekte
in Kono sora no hana: „[…] onslaught
of graphics, information, multiple narratives, complicated histories, temporal
sliding, surrealistic touches, nonsense dialogue, and intense pathos – arguably
the hallmarks of Obayashi’s work – has inspired feelings of bewilderment and
uncertainty.” (2017: 172) Auch die Vermischung mehrerer Zeitebenen ist bereits
vor „Fukushima“ ein Stilmittel des Regisseurs: “Beyond formal experimentation,
what makes Obayashi's early work distinct from other filmmakers to come out of
the 1960s is the way he pairs an emphasis on malleable time and space with an
equally fervent impulse towards melodrama of the most robust and romantic
sort.” (Roquet 2009)
[19] Originaltext:
大林「ならばね、映画は時代を映す鏡、『風化せぬジャーナリズム』だと僕は信じています から、この安保法強行採決に至った敗戦後七〇年のこの国の「戦争映画」の推移の様子をも う一度いまここで辿り直してみようと」
[20] Für
eine ausführliche Auseinandersetzung mit Picassos Guernica im Kontext zu Ōbayashis Kono sora no hana siehe Kaffen (2017: 173-175).
[21] Originaltext: 大林「僕は前作とのこの2本を「シネマ・ゲルニカ」と呼んでいて、それは「風化しないジ ャーナリズム」。写真や写実派の絵画で記録したら、見たくない、思い出したくない、忘れたい、で風化する戦禍の記憶も、ピカソのあの子どもが描いたような絵は不思議で、面白くすらあるから今でも未来でも、小さな子どもだって立ち止まり、ピカソの平和への祈りのメッセージを感受する。僕の映画も横顔に目が二つあるようなキュービズムの描写で、理解するには難しいかも知れないけど、きっと何かを強く感じてもらえるはず」
[22]
Während der Film Kono sora no hana
noch vermehrt mit dokumentarischen Elementen und Einblendungen von Daten
arbeitet, ist dies in Nanoka kaum
noch aufzufinden und einem Fokus auf dem menschlichen Drama des Filmes
gewichen.
[23] Hierzu Ōbayashi: „ […] I want to
communicate with the audience, I want them to find their own way and get them
lost first and have them find their own way back.” (O’Keeffe 2014)
[24]
So spricht Ōbayashi von zuisō eiga 随想映画(freie
Gedanken, essayartig) oder geki eiga 劇映画
(Spielfilm) (Inogai 2014: 23). Eine Einordnung als furusato eiga 古里映画 (Heimatfilm) läge bei der Wahl
des Schauplatzes und in Bezug zu seinem früheren Filmschaffen ebenfalls nahe.
[25]
Ob es sich beim Essayfilm um ein eigenes Filmgenre handelt, oder ob aufgrund der
Aufnahme verschiedener Genres von einer Kategorie zu sprechen ist, wird
kontrovers diskutiert (vgl. Kramer, Tode 2011: 14). In dieser Arbeit wird der Essayfilm als Genre
kategorisiert.
[26]
Finanzielle Unterstützung sowie Lebensmittelspenden wurden von der
Stadtbevölkerung von Ashibetsu zusammengetragen (vgl. Endō 2015).
[27] Originaltext: 大林「ところで団塊の世代を中心に、高度経済成長期のころから、日本人はみな「各論」で ものごとを考え始めたでしょう。トータルにではなく、それぞれにジャンル分けして」
[28] Hierzu weiter: „The whole
process is pretty chaotic and I create this whole chaotic monster and give it
to the audience with no explanation and no clarity. I call it a
'charming chaos'” (O’Keeffe 2014).
[29] Für
eine Beschreibung wie Essayfilme im Gegensatz zu Spiel- und Dokumentarfilm
„nicht verfahren“ siehe Kramer (2011: 275).
[31]
Der Titel No no nana nanoka (wörtl.
sieben Wochen auf dem Land) bezieht sich auf ein buddhistisches
Beerdigungsritual, in dem über einen Zeitraum von 49 Tagen einmal pro Woche für
den Verstorbenen gebetet wird (vgl. Walter 2008: 268).
[32]
Karafuto wurde 1905 nach dem Sieg Japans im Russisch-Japanischen Krieg durch
den „Vertrag von Portsmouth“ von Russland an Japan abgetreten (vgl. Hasegawa
2005: 8).
[33]
Der Sowjetisch-Japanische Krieg dauerte knapp vier Wochen, beginnend mit der
Invasion sowjetischer Truppen in Südsachalin am 11. August 1945. Der Konflikt
ging selbst nach der Kapitulation Japans am 15. August weiter und endete erst
mit der Belagerung der Hafenstadt Otomari am 25. August. Am 2. September endete
der Krieg offiziell mit der Besatzung der Alliierten, wodurch weitere
Invasionsbestreben der Sowjets in Richtung Hokkaidō aufgegeben wurden (vgl.
Hasegawa 2005: 255-258, 285-286).
[34]
Ōbayashi wies seine Schauspieler dazu an, überdurchschnittlich schnell zu
sprechen, um die Dialoge unnatürlich wirken zu lassen (vgl. Inogai 2014: 26).
[35] Originaltext:
秋人(あきと)「まだ泊なのかな、春彦おじさん」
冬樹(ふゆき)「そうか。もうそろそろ一年になるか」 英子(えいこ)「原発は止めたあとの方が仕事が多いって言うよね」
かさね 「あのあと。[trinkt Kaffee]うまっ!」
[36] Originaltext:
かさね「泊原発って日本で最後にとまったのよね」
冬樹「どうするつもりかなこれから」
秋人「今、作ったことの方が問題だけどな」 英子「福島から日本中、とうとうここまでやってきちゃったわね」 光男(みつお)「敵はどこからでも攻めてくるぞー!」
英子「終わることはありませんこと」
それで、意識の流れをそのまま映像にしたエッセームービー二本が生まれたんです」
[38] Originaltext:
大林「3.11を経て、この映画の製作を決めた時 最初に定めたルールは「東日本にはキ ャメラを持ち込まない事」だった。これは想像力による「劇映画」範疇に入る映画だからあくまでも日常の中で「非日常」を創作する。東日本の現在はまさに「非日常」と化しているのだからそこにみだりに「劇映画」のキャメラを持ち込んで「非日常」を描くのは許されぬ事である。ならば己のすべての「想像力」を懸けて「東日本」に対して耳をすませ心を傾け よう」
[39]
Besonders hervorzuheben sind hier die Schallplattenaufnahme von feindlichen
Bombern, die in Mitsuos Wohnzimmer abgespielt wird, sowie die musizierende
Geistergruppe, die häufig am Ende eines Kapitels durch die Landschaft Hokkaidōs
marschiert.
[40]
Im Film wird dies zudem dadurch deutlich gemacht, dass Mitsuos Bild auf der
Beerdigungszeremonie aus der Kriegszeit stammt, weil kein neueres von ihm
existiert. (vgl. Ōbayashi 2014b: 70).
[44] „Nana nanoka“ wurde in Anführungszeichen
gesetzt, da dieser Begriff in Kontrast zu dem eher gebräuchlichen „shijūkunichi“ im Film verwendet wird und
vermutlich auf einen Dialekt oder die Präferenz des Regisseurs zurückzuführen
ist. Originaltext: 語り手「日本の里のなななのかには、わたしたちはきっと、穏やかな日日の中で暮らしてい る」
[45]
Der Begriff befindet sich in derselben Schreibweise im Titel des elften
Kapitels
[51] Originaltext:
大林「…そしてその映画がもう二度と戦争や原発事故などの人災のない世界をつくるために、 過去を知る大人たちが未来に生きる子どもらにその体験を伝え、手紙として伝え残してお く。」
[52] Originaltext:
冬樹「どうなってるんだ君んとこの原発は、とめたままで」 春彦「ぼくはね、個人的な意見としてはこのまま原発をもう止めておくべきだと考えている」 冬樹「ますます不景気になるぞ、世の中。それにだな、北海道の冬は本州とは事情が違うだ ろう。真冬に暖房なしで暮らせるっていうのか」 春彦「現実論は深刻だ。去年の冬も北海道だけが国から数値目標付きの節電要請があったし な…。と、まぁつまり火力発電所に頼って、また石炭を掘り出さなきゃ。しかし、にいさん、 ぼくたち何かを変えなきゃ、未来は変わん…」
[53] Hierbei
handelt es sich um ein Projekt, das im Juni 2011 ins Leben gerufen wurde und
seither an dem Ziel arbeitet, Hokkaidō zu hundert Prozent mit erneuerbarer
Energie zu versorgen. Die Aktivitäten der Gruppe umfassen Seminare und
Informationsveranstaltungen sowie Zusammenarbeiten mit anderen
Non-ProfitOrganisationen, die auf einem Blog dokumentiert werden (der aktuell
letzte Blogeintrag wurde am 11.
Januar 2017 veröffentlicht). Im März 2014 wurde das Projekt mit dem
Umweltpreis der Zeitung Hokkaidō shinbun
ausgezeichnet (vgl. Enechan100: 2014).
[54] Originaltext: 春彦「北海道の再生可能エネルギーの開発が実はすごいんだ。北海道エネルギーチェンジ1 00プロジェクトといって、風力発電を始め、太陽光や地熱など2050年までにこの北海道を日本最遠自然エネルギー供給基地にするという構想もある。おれもそういう未来に生き てみようかなと」
[55] Originaltext:
春彦「おれたち、やっぱり変わらなきゃいかんね」
冬樹「うん」
春彦「あの3.11を体験した以上」
冬樹「何で急に藪から棒に?」
春彦「すべての価値観がひっくり返されたからね」
[58] Die
Stadt Minamisōma entstand aus den beiden Kleinstädten Haramachi und Kashima.
[59] Originaltext:
秋人「実はついこないだ、良子くんがまた帰ってきてね」
かさね「原町、南相馬から?」 秋人「お母さんも弟も連れて福島へ戻る決心をしたそうだ。古里を必ず復興させるんだって」 かさね「こんなときに?」
秋人「こんなときだからこそ」
[62]
In dieser Hinsicht kann Kasane als sprechender Name gesehen werden. Das Verb
„kasaneru“ (重ねる) bedeutet „aufschichten“ und „aufeinanderlegen“,
bezeichnet also im übertragenen Sinn die Überlagerung der beiden Kontexte Krieg
und „Fukushima“
[63] Originaltext: 大林「…私達の日本の敗戦後の復興の在り方は何処か間違っていたんじゃないか、あまりに もものと金ばっかりでね、復興してきて、むしろ大切なのは人の心ではなかったかと」
[67]
Vgl. http://www.asahi.com/ajw/articles/AJ201807260008.html und https://dot.asahi.com/dot/2018022300083.html?page=1
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