Freitag, 26. Februar 2021

Das Monster in mir (Unausgereifte Gedanken)

Vorwort 
Während ich die erste Folge von Jujutsu Kaisen sah, kam ich ins Grübeln. Nicht darüber, wer für die flüssigen Animationen zu ständig war, nicht darüber, ob es der nächste große Hypeanime werden würde, nicht darüber, ob mir die Musik passend erscheint und auch nicht darüber, ob mir die Farbgebung oder die Dramaturgie gefällt. Nein, ich habe mich beim nachfolgenden Ausschnitt (21:21 - 23:44) etwas ganz anderes gefragt. 
Ich fragte mich: Gibt es einen narrativ funktionalen Unterschied zwischen dem Monster vor mir und dem Monster in mir? 
Ganz eindeutig, so viel muss ich hier schon vorweg nehmen, lässt sich diese Frage jedoch nicht beantworten, denn "[ü]ber die poetischen Gattungsgrenzen hinweg betrachtet, zeigt sich von der antiken Heldenepik über die mittelalterliche epische Dichtung bis hin zu Gothic Novels und Fantasy- bzw. Mysteryserien der Gegenwart eine große Spanne von Erscheinungsformen, Funktionen, Bedeutungen und Handlungsmustern, die Monster ein- bzw. übernehmen. [...] In dieser Vielfalt scheint aber ein Konzept besonders fruchtbar zu sein: das ambivalente Monster, das eine Vielfalt von handlungsbezogenen und funktionellen Varianten ermöglicht."[1] 

Das Monster vor mir 
Monster entstehen nicht, sie werden gemacht und zwar von uns Menschen, denn erst durch unsere Zuschreibung wird ein Monster zu einem solchen.[2] "Die Bezeichnung › Monster‹ trifft gerade das grundsätzlich Andere, dasjenige, was in die vorhandenen Kategorien nicht einzuordnen ist oder aus eben diesen Kategorien ausgeschlossen werden soll."[2] Im Falle von Jujutsu Kaisen wird die Deklaration des Anderen in Folge 16 im Gespräch zwischen dem Panda, der kein Panda ist, und Mechamaru, der mechanischen Verlängerung von Kokichi Muta, besonders greifbar. In ihrem Wortwechsel zeigt sich inwiefern Fremd- und Selbstbestimmung diskrepant sein können und in welcher Weise der jeweils Sprechende die Macht hat zu benennen, was er vor sich wähnt. Die Beziehung von Mensch zu Monster, die an dieser Stelle offenbar wird, nicht nur für die beiden Figuren, sondern auch für uns als Publikum, zeigt im Aufeinandertreffen des Menschen mit diesem Anderen zwei der üblichen "Reaktionsmuster: Abscheu, Furcht und Angst auf der einen Seite, Faszination und Neugier auf der anderen"[4], die hier beide gemeinsam auftreten, sowohl im anfänglichen Blick auf das Gegenüber als auch in der impliziten Reaktion Dritter, der angenommen Wahrnehmung dieser. 
Monster "sind frei, wild und unberechenbar. Allein durch ihr Aussehen lösen sie starke Gefühle aus: Angst und Furcht, aber auch Neugier und Voyeurismus. Sie faszinieren. Weil es sie überall auf der Welt gibt veranschaulichen sie Gemütslagen und sich ändernde Weltdeutungen."[5] 
Diese über- beziehungsweise unnatürlichen Geschöpfe, die der menschlichen Imagination entspringen, bieten uns Menschen in ihrer Fiktionalität seit der paläolithischen Kunst, also seit über 30.000 Jahren, eine Reflexionsfläche für unser Sein und Werden.[6] Weshalb es auch nicht verwundert, dass Monstern eine Vielzahl ambivalenter und widerstreitender Konnotationen anhaften, was sich auch in ihren unterschiedlichen Funktionen widerspiegelt. 
Aber werden wir wieder konkreter. In der sechzehnten Folge von Jujutsu Kaisen tritt die Vorstellung "Monster [seien] Verkörperungen des Unverfügbaren"[7] aus dem Schatten des Unbekannten heraus, denn schon immer waren "[d]ie Randgebiete des menschlichen Wissens [...] ein fruchtbares Territorium für Monster"[8], was sich stärker noch in der ersten Folge dieses Animes, auf den ersten Seiten des Mangas, zeigt. Als eine solche "Verkörperungen des Unverfügbaren [...], werden auf sie Ängste ebenso wie beispielsweise Erlösungshoffnungen projiziert, [...] [was] eine neutrale Haltung ihnen gegenüber tendenziell unmöglich"[9] macht. Bis ins 18. Jahrhundert war der Körper als Marker für dass, was als monströs galt, mit allen negativen Zuschreibungen den als anders Wahrgenommenen gegenüben, zentral.[10]
Auffällig scheint zu sein, dass "Monster [...] nicht nur als Phänomen im Hinblick auf ihre Beschaffenheit ein ›Gegenstück‹ zur Norm [darstellen]. Auch im Narrativ muss ihre Rolle in Bezug auf einen festen Orientierungspunkt definiert werden."[11] Für gewöhnlich ist es die Hauptfigur, die "als Mensch das Eigene, Normale, Vertraute und Ideale und darüber hinaus auch das Vorbildliche verkörpert, [...] [sie] fungiert als eine Art Kompass, der [für das Publikum] das Verständnis der diegetischen Welt ermöglicht."[12] 
Monster ist allerdings nicht gleich Monster und so hat sich bereits in den Vorstellungen und Werken des Mittelalters gezeigt, dass es eine zweigeteilte Klassifizierung der Monster gibt, die sich darin begründet, ob und inwieweit das Monster in den Augen der Menschen dazu fähig erscheint, mit ihnen zusammenzuleben, der Gradmesser ist hier, inwieweit es sich an die menschengemachten Regeln und Konventionen zu halten vermag.[13] Solche "[z]ivilisierte[n] Monster können in gewisser Weise als Spiegelbild des Menschen verstanden werden"[14], während "[n]ichtzivilisierte Monster [...] als Gegenbild zum Menschen [fungieren] und [...] vor allem durch die Kategorie der Fremdheit bestimmt"[15] werden. Auf diese Weise waren und sind Monster stets auch Erklärungsversuche des Unbegreifbaren und haben dazu gedient, zu verhandeln, was als menschlich und was als nicht mehr menschlich gilt. Da eine solche Zuschreibung von außen jedoch nur eine grobe Einteilung ermöglicht, ergibt sich in der jeweiligen Geschichte und dies schon in Texten der Antike, immer genügen Raum, um die Monster als komplexere Wesen zu beschreiben.[16] 
In Werken wie Jujutsu Kaisen, Devilman, Hunter x Hunter, Monster Rancher, Dragon Ball oder Parasyte, um nur einige bekanntere Beispiele zu nennen, führt dies dazu, dass es dort sowohl eindimensionale Figuren, ohne jegliche Persönlichkeit, als auch vielschichtige und hierbei äußerst ambivalente Figuren gibt, mit denen das Publikums sympathisieren kann. 

Das Monster in mir 
Götter, Geister und Dämonen, die Vorstellung, dass mächtige Wesenheiten Tiere, Menschen, Pflanzen und selbst Gegenstände in Besitz nehmen können, ist uralt, so alt wie die ersten Mythen der Menschheit,[17] und findet sich als wesentliches Element in vielen noch heute ausgeübten Religionen.[18] 
Diese Entitäten, diese übernatürlichen Wesenheiten, die in etwas einfahren, die einen fremden Körper in Besitznehmen, die diesen als Inhalt gewissermaßen zu ihrem Gefäß machen, sorgen dafür, dass der Wirtskörper anders wahrgenommen wird als zuvor. Diese Verschmelzung zweier Geschöpfe zu einem, wird in vielen Titeln durch eine veränderte Darstellung der jeweiligen Figur vermittelt, beispielsweise bei Shin’ichi Izumi in Parasyte oder deutlicher noch bei Akira Fudo in Devilman Crybaby. Es gibt aber auch Figuren, bei denen die Veränderungen deutlich weniger sichtbar sind, so ist es etwa bei Vegeta in Dragon Ball die simple Zeichnung mit dem Buchstaben M, die, abseits der vergrößerten Stärke, den Unterschied zur vorherigen Version seiner Selbst ausmacht. Ein ähnliches Exempel wäre der Avatar in Legend of Korra oder der Figur Shen ebenfalls aus Dragon Ball
Die Inbesitznahme, wenn sie seitens Dritter bemerkt wird, führt zuvörderst meist zu einer Irritation dieser und hierauf zwangsläufig zu einem Wandel in der Beziehung zur veränderten Figur. Es stellen sich, nicht nur dem Publikum, sondern auch den anderen Figuren des jeweiligen fiktionalen Werks die Fragen, inwieweit der vormalige Körper und Geist jetzt noch vorhanden sind und was seit der Verschmelzung zu einem Wesen stärker wirkt, das Gefäß oder der Inhalt, der Körper oder das Monster? 
Bei Yūji Itadori in Jujutsu Kaisen wird dies der Zuschauerschaft über die diskrepante Visualisierung der Figur in verschiedenen Situationen eindeutig vermittelt, jedoch scheint diese Eindeutigkeit nur für uns Rezipierende zu bestehen, denn die übrigen Figuren sind sich, jedenfalls zu Beginn, unschlüssig, wer denn nun ihr Gegenüber eigentlich ist. 
Bis hierhin ist die Außenwahrnehmung und die damit verbundene narrative Funktion dieser zwei unterschiedlichen Monstererscheinungen ziemlich identisch. Eine Divergenz zum Monster vor mir wird allerdings durch die Abwandlung von etwas zuvor Bekanntem herbeigeführt und bedingt hierdurch noch ambivalentere und somit unbestimmbare Figuren. Von außen wird hier weiterhin verhandelt, was als menschlich und was als nicht mehr menschlich zu gelten habe. 
Für die Figur, die als Gefäß das Monster in sich aufnimmt beziehungsweise häufiger in sich aufnehmen muss, verhält es sich jedoch anders. Beim Monster vor uns werden wir dessen Gedanken, seiner Innenwelt, meist nicht teilhaftig, wenn wir durch die Erzählung Einblicke in seinen Innenleben erhalten, handelt es sich meist um äußerst ambivalente Monster, die als widerstreitende Figuren konzipiert sind und dem Publikum als solche vorgeführt werden, dagegen ist bei den Monstern in uns die Konzeption eine andere. Nicht von ungefähr lässt die Benennung als "die Monster in uns" uns alsgleich an Unbewusstes, an Sigmund Freunds Es und Über-Ich denken, denn das Monster in uns erlaubt es der entsprechenden Geschichte die Innenperspektive der jeweiligen Figur mit all ihren verschiedenen Konflikten kleinteilig zu ergründen. 
Während das äußere Monster die physische Stärke der Figur oder der Figuren herausfordert, verläuft der Wettstreit mit dem inneren Monster in der Psyche. Das Überwinden des Monsters führt im ersten Fall denn häufig auch zum Ausbau und der Entwicklung der Fähigkeiten der Figur, während im zweiten Fall das Wachstum und die Entwicklung der Persönlichkeit im Vordergrund steht. Folglich verwundert es nicht, dass Yūji Itadori in Jujutsu Kaisen sich bereits nach wenigen Folgen, nach wenigen Kapiteln von Vorstellungen und Glaubensgrundsätzen verabschieden muss, die er einst hochhielt, nun allerdings gezwungenermaßen merkt, dass er sie in dieser neuen Situation nicht mehr aufrecht erhalten kann, er sich anpassen muss, wenn er überleben möchte, um hier nur das aktuellste Beispiel zu nennen. 

Abschließend soll hier verallgemeinernd resümiert werden, denn es gibt natürlich auch Beispiel, die genau gegenteilig gelagert sind, aber en gros lässt sich sagen: Das Monster vor uns stellt uns Fragen über die Moralität der Menschheit und das Monster in uns stellt uns ebensolche Fragen, aber darüber hinaus noch viel expliziter Fragen über unsere individuelle Moralität, über unsere eigene Verfasstheit.  
Und so möchte ich diese unausgereiften Gedanken mit einen Aphorismus aus Friedrich Nietzsches Jenseits von Gut und Böse beschließen: "Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein."[19] 

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[1] Leila Werthschulte und Šeila Selimović: Gutes Monster, böses Monster, S. 230. 
[2] Vgl. Gunther Gebhard, Oliver Geisler und Steffen Schröter: Von Monstern und Menschen, S.9. 
[3] Gunther Gebhard, Oliver Geisler und Steffen Schröter: Von Monstern und Menschen, S. 10. 
[4] Gunther Gebhard, Oliver Geisler und Steffen Schröter: Von Monstern und Menschen, S. 11.
[5] Hubert Filser: Menschen brauchen Monster, S.34. 
[6] Vgl. Hubert Filser: Menschen brauchen Monster, S.34 und Christopher Dell: Monster, S. 7. 
[7] Gunther Gebhard, Oliver Geisler und Steffen Schröter: Von Monstern und Menschen, S. 11. 
[8] Christopher Dell: Monster, S.72. 
[9] Gunther Gebhard, Oliver Geisler und Steffen Schröter: Von Monstern und Menschen, S. 11. 
[10] "Lange Zeit – von der Antike bis in die Neuzeit hinein – blieb die Bezeichnung monstra, so sie auf existierende Menschen bezogen wurde, weitgehend für › Missgebildete‹ reserviert. Erst etwa seit dem Ende des 18. Jahrhundert wird das Monster nicht mehr ausschließlich in Kategorien des Körperlichen gedacht; das Monster wird nun in zunehmendem Maße zu einer Semantik, mit der auf die unterschiedlichsten Formen von – üblicherweise moralischer – Devianz reagiert wird. Diesen Monstern kann (oder zumindest: könnte) man dann auch in der Realität begegnen, wobei sich dann nicht selten ein Erstaunen darüber einstellt, dass es sich hier um Menschen handelt." In: Gunther Gebhard, Oliver Geisler und Steffen Schröter: Von Monstern und Menschen, S. 12. 
[11] Leila Werthschulte und Šeila Selimović: Gutes Monster, böses Monster, S. 235. 
[12] Ebd. 
[13] Vgl. Leila Werthschulte und Šeila Selimović: Gutes Monster, böses Monster, S. 238. 
[14] Ebd. 
[15] Ebd. 
[16] Vgl. Leila Werthschulte und Šeila Selimović: Gutes Monster, böses Monster, S.231-235.
[17] Vgl. Leila Werthschulte und Šeila Selimović: Gutes Monster, böses Monster, S. 229. 
[18] Vgl. hierzu bei Interesse: https://www.ardaudiothek.de/radiowissen/lebende-goetter-und-das-wort-ist-fleisch-geworden-doku-ueber-inkarnatio nen/84027038. 
[19] Karl Schlechta (Hrsg.): Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, Band 2, S. 635.

Literatur 
- Dell, Christopher: Monster. Dämonen, Drachen & Vampire. Ein Bestiarium. Christian Brandstätter Verlag, Wien 2010. 
- Hubert Filser, Hubert: Menschen brauchen Monster. SZ, Nr.163. (S. 34.) 
- Gebhard, Gunther, Oliver Geisler und Steffen Schröter: Einleitung. In: Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hrsg.): Von Monstern und Menschen. Begegnungen der anderen Art in kulturwissenschaftlicher Perspektive. transcript Verlag, Bielefeld 2009. (S. 9-30.)
- Schlechta, Karl (Hrsg.): Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden. Hanser, München 1954, Band 2. 
- Werthschulte, Leila und Šeila Selimović: Gutes Monster, böses Monster. Über die Ambivalenz der Ungeheuer von Bisclavret bis Buffy. In: Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hrsg.): Von Monstern und Menschen. Begegnungen der anderen Art in kulturwissenschaftlicher Perspektive. transcript Verlag, Bielefeld 2009.  (S. 229-252.)

Internetquelle 
-https://www.ardaudiothek.de/radiowissen/lebende-goetter-und-das-wort-ist-fleisch-geworden-doku-ueber-inkarnationen/84027038, am 23.02.2021.